Temps perdu

Er zielte mit dem Finger, drückte ab, blies den imaginären Rauch weg: Siebert erinnert sich an 1968 in Frankfurt. Eine Erzählung

von JAMAL TUSCHICK

Die Bekannte will Bohnen bringen. Siebert wartet am Fenster. Er wohnt dritter Stock, in seiner Straße sind die Häuser nicht hoch. Unter ihm parkt einer umständlich ein. Das regt ihn auf. „Dummbeutel.“

Ein Fatzke hebt das Haupt. „Reden Sie mit mir?“

„Komm mir nicht so, Freundchen“, entgegnet Siebert seelenruhig. Fatzke dreht ab, kapituliert offenbar gern vorzeitig. Siebert fällt plötzlich ein, der Fatzke ist bis zum Namen ihm ein bekannter. Zum Teufel, das war Dehm, Dieter, vormals maoistischer Gymnasiast – und dabei, als am hellen Morgen des 31. Mai 1968 (Termine und Zitate vom Verf. recherchiert, alles weitere aus dem Gedächtnis von Siebert) Schülern der Bettinaschule der Zutritt von Polizei verwehrt wurde. Weswegen eigentlich? Siebert trat als ungebetener Beobachter der weiteren Entwicklung auf. Er folgte einem Renitenzzug der Ausgeschlossenen und ihrer Sympathisanten zur Lessingschule. Dort war aber keiner außer Schulleiter Ringshausen, Karl, Dr., damals schon über sechzig. Er hatte alle Schüler entlassen, wie konnte so was sein? Aktenkundig wurde das, weil er mit den anstürmenden Bettinaschülern in ein Handgemenge geriet. „Der Direktor hielt jedoch die Stellung, bis die Polizei kam.“ So stand’s in der Zeitung. Wieso durften diese halbgaren Arschlöcher . . . vom Osten gesteuert und jede Kugel zu schade für . . . sich so aufführen?

Die Bekannte kommt mit dem Rad, Siebert rät von oben herab, es doppelt anzuschließen oder vorübergehend in den Keller zu tun. Sie löst erst mal die Hosenträger, mit denen eine Steige auf dem Gepäckträger festgemacht ist. Sie war im Garten, deshalb die Gummistiefel. Siebert könnte helfen, wenigstens die Bohnen hochtragen, das fällt ihm nicht ein. Dafür der Anlass für den Schülerkrawall. Der richtete sich gegen die Ermächtigungsgesetze. Ob die zu diesem Zeitpunkt schon ergangen waren? Von den Radaububen wurden welche vor Gericht gezogen, Siebert glaubt, Dehm auch. Wegen Hausfriedensbruch. Zumindest das.

Streik für Hitzefrei

1968 streikten Offenbacher Schüler für Hitzefrei. Drei Salatköpfe kosteten eine Mark und zehn Eier der Güteklasse A einsachtundachtzig. Zwei Mark kostete ein Pfund Himbeeren. Die Bohnen sind verstaut. „Danke und Tschö.“ Die Bekannte hebt die Schultern: eine Arabeske ihrer Resignation. Wenigstens pro forma hätte Siebert Kaffee anbieten können. Notstandsgesetze hießen die Ermächtigungsgesetze 1968. Siebert haut eine Hand an die Stirn vor lauter Empörung über seine Schusseligkeit. Er hat was aufgehoben, im Leitz-Ordner, von dem er jetzt Staub bläst: Ausrisse, Flugblätter. Ein Zeitungsfoto zeigt ihn hinter anderen. Zufällig war er auf ein Bild geraten, das eine Zusammenrottung vor dem Café Laumer dokumentiert. Am 15. September bewarfen welche den Gastronomen Rimbach, Helmut, mit Süßigkeiten, weil er bei seinen Gästen auf Anstand hielt und Hausverbote gegen Gammler aussprach. Teufel, Fritz, reisender Student, war beim Protest zugegen, strumpflos in Jesuspantoffeln, schon richtig langhaarig, wie damals wenige. Wolff, Karl-Dietrich, Studentenanführer, unterstützte ihn. „Keine Diskussionen mehr“, hatte er entschieden, es sei nun so weit, „von der Theorie zur Tat überzugehen.“

Seit Siebenundsechzig gab Siebert im Club Voltaire den interessierten Angestellten ohne Anstellung, erst noch im Anzug und Buttondownhemd. Die Studenten, so hatte er gehört, schätzten Überzeugungsarbeit am braven Mann. Wirtin war eine Falkenbraut aus dem Kamerun, eine handfeste Soundso, Else. Siebert trank Schorle, rauchte Eckstein. Vor dem Anzünden schleuste er die Fluppe durch den Kanal zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Zunge war darauf abgerichtet, Tabakfäden von der Unterlippe zu zupfen.

Siebert stellte sich vor, verdeckter Ermittler zu sein. Er versuchte Frauen kennen zu lernen. Interessierte aber keine, dass er den Kran von Schifferstadt privat kannte, so wie Mildenberger, Karl, später berühmtester Bademeister von Kaiserslautern. Die Schüsseln flogen auf uncharmante Typen, das gab Siebert zu denken. Häuptling Glasauge nannte er Krahl, Hans-Jürgen, Studentenanführer. Der hatte ein künstliches Auge, noch war Nachkrieg, einschlägige Beschädigungen nicht nur Merkmale alter Leute. Von seiner Prädestination zur sagenhaften Figur zeugte die Spekulation, er sei in Wahrheit ein Graf, der sein Inkognito pflegt. Dabei sah dieser Tribun der Aufmüpfigen so aus, als wäre er noch unter den Arbeiter gesunken.

Der Niedersachse hatte den Weg in die außerparlamentarische Opposition über die Junge Union und eine schlagende Verbindung genommen. Adorno veranlasste er zu der Feststellung: „In diesem Krahl hausen die Wölfe.“ Die „Sprechmaschine des SDS“ warf dem Professor vor, das Vokabular der kritischen Analyse zwar auszugeben, sich jedoch einer Praxis der Konsequenzen zu enthalten. Siebert setzte er einmal das ABC der Revolte auseinander. Der fixierte ihn skeptisch, an jenem Abend trug er zur Sportfrisur einen stahlblauen Anzug mit schmalem Revers, eine taubengraue Weste darunter und spitze italienische Schuhe. Er kam nicht los von der Vorstellung, dass Krahl sich in seinen Lumpen blöd vorkommen musste.

SDS-Kongress im Mai

Siebert verstand die Gesprächsausdauer der Studenten nicht. Er teilte weder ihre Hoffnungen noch ihre Befürchtungen. Seine biedere Ungerührtheit, fett gemacht vom Familienzaster, trennte ihn von diesem Milieu, das ihn aber faszinierte. Er sammelte lose Blätter, die herumflogen, und brachte sie zur Polizei. Am SDS-Bundeskongress Ende März nahm er als notierender Zuschauer teil, schon unrasiert, mit umflorten Augen, Baader nicht unähnlich. Eine Weile stand neben ihm Söhnlein, Horst. Ihm gegenüber markierte Siebert den Reporter. Der Schauspieler aus München war nach Frankfurt gekommen, um gemeinsam mit anderen Kaufhäuser auf der Zeil anzustecken, so geschehen in der Nacht zum 3. April: als Protest gegen amerikanische Napalmaktionen in Vietnam. Siebert zweifelte nicht, dass der Vorgang zu vereiteln gewesen wäre, hätte man sich vorher mit ihm verständigt. Eine Woche darauf wurde Dutschke in Berlin niedergeschossen. Der nächste Tag war Karfreitag, weltweit fanden Umzüge statt. In Deutschland richteten sie sich gegen die Springerpresse, der „die drei verhängnisvollen Revolverschüsse“ (FR v. 16. 4.) angelastet wurden. Siebert half bei einer Belagerung der Societätsdruckerei auf der Mainzer Landstraße, um die Auslieferung seiner Frühstückszeitung zu verhindern. Erstmals sah er Demonstranten mit Sturzhelmen . . . und Polizisten, die Fersengeld gaben. Aktivisten erbeuteten die Düsen eines Wasserwerfers. Das Remmidemmi zog sich bis nach Mitternacht, dann klappte die Räumung. Inzwischen waren sechs Hundertschaften zusammengezogen worden. Siebert türmte in einer Korona aus Leuten, die im Westend eine Sechszimmerwohnung angemietet hatten, lauter Stuttgarter, bereits mit Height-Ashbury-Appeal und Mittelscheitel. Einer sagte, „wir werfen jetzt Trips ein“, das war ein Stück Papier, das man schlucken musste. In der Wohnung gab’s keinen Sprit, nichts Vernünftiges zu essen, auf den Kühlschrank war ein roter Stern gemalt. Plötzlich ging in der Küche ein Palaver los. Siebert floh in die Vegas-Bar auf der Münchener Straße, wo die vom Leben Verwitterten, richtig Beschädigte, gestopfte Metzgersöhne, die Import-Export-Spezis, Pikkolo-Damen und Rennbahn-Stutzer mit Einstecktüchern sämtliche Aufforderungen zur letzten Bestellung ignorierten, einträchtig wie sonst nie.

Siebert fehlte das Sitzfleisch für Lektüre. Politische Leute, die sich mit ihm abgaben, verwirrten seine Bemerkungen. Der herrschende Jargon verhedderte ihm die Zunge. Andererseits fand er sich in den Gliederungen der antiautoritären Bewegung immer besser zurecht. Haschrebellen schienen den meisten Spaß zu haben. Sie waren meistens knülle.

Siebert legte sich schließlich eine Bluejeanshose zu und Stiefel, an die Eisenstücke genagelt waren. An der Bockenheimer Warte probte er vor einer Ausreißerin zum ersten Mal in der neuen Kluft. Angeblich war sie schon sechzehn, er nahm sie mit ins Café Schwille, wo die ausgeschlafenen Jungen hingingen, die mit den stillen Beteiligungen und roten Corvetten. Sie sahen nun auch aus wie Gammler und tagten regelmäßig auf der Wiese hinter dem Stadtbad Mitte. Schwarze mit verspiegelten Brillen und großen Hunden sickerten in die Zirkel, trafen ihre Verabredungen, lauter gedämpfte Geschäfte. Die Cracks trugen nach Django-Art leichte Mäntel und Schnurrbärte bis zur Kinnspitze. Siebert erwog einen Anschlag auf Cohn-Bendit, Daniel, ab Wintersemester 1968/69 bekanntester Student Deutschlands. Die Zeitungen berichteten von seiner Immatrikulation. Nach Frankreich, wo er herkam, durfte er nicht. Einreiseverbot. Siebert schrieb Bachmann, Josef, Attentäter, ins Gefängnis, erhielt aber keine Antwort.

Netter Junge Baader

Bundesweit waren 1968 rund 800 Strafverfahren gegen APO-Aktivisten anhängig. Einem Beobachter im „Frankfurter Brandstifter-Prozess“ erschien Andreas Baader, 25, als „netter Junge, der mehr aus Versehen Marcuse gelesen hat“. Die außerdem Angeklagte Gudrun Ensslin, 28, sagte aus: „Ich interessiere mich nicht für ein paar verbrannte Schaumstoffmatratzen, ich rede von verbrannten Kindern in Vietnam.“ Am 31. Oktober ergingen die Urteile. Während der Verkündung gab Cohn-Bendit mit einem Zwischenruf das Signal für einen Aufstand im Gerichtssaal. Im Hechtsprung setzte er über die Barriere zur Anklagebank. Siebert zielte mit dem Finger auf ihn, drückte ab und blies den imaginären Rauch vom imaginären Lauf. Später förderte er mit einer echten Nebelkerze den Tumult im Treppenhaus des Gerichts. Damals gehörte Siebert schon zu einem Ring undogmatischer Rauschköpfe, die beim Haschhandel ins Geld griffen. Ein Vermögen erwarben sie über Nacht. Seine Heimatverbundenheit bewahrte Siebert vor Ungemach: indes Freunde die Shit-Asche in der Welt ausstreuten, in gefährliche Händel gerieten, im Knast von Kalkutta landeten, in die Sucht abstürzten oder einer anderen Krankheit Opfer wurden, legte Siebert eine feste Hand auf seinen Teil. Zwanzig Jahre führte er einen Zeil-Ausschank, dann zog er sich zurück. Spricht einer Siebert auf Cohn-Bendit an, kriegt er im Ernst zu hören: „Pass ma acht, dieser Judenbengel hatte damals Dusel. Ich hatt’ mir den ausgeguckt, der stank mir.“ Siebert bringt den Vortrag mit der Gelassenheit jener, die so viele kommen und gehen sahen, die ihren Schnitt gemacht haben: denen das Leben nichts schuldig geblieben ist.

Der Autor lebt als Schriftsteller in Frankfurt. Im Suhrkamp-Verlag erschien sein Roman „Keine große Geschichte“.