Tokios Börse auf schnellem Sinkflug

Tiefster Börsenstand in Japan seit über fünfzehn Jahren. Vor allem Technologietitel betroffen. Yen in Bedrängnis, Rezession wieder Thema

aus Tokio ANDRÉ KUNZ

Die japanische Börse gibt einen Vorgeschmack auf eine neue Wirtschaftskrise in der zweitgrößten Industriemacht der Welt. Gestern fiel der Nikkei-Index ins Bodenlose: Er verlor 3,3 Prozent und notierte am Abend bei 12.261,8 Zählern. So tief lag Nippons Börsenindex seit dem 25. September 1985 nicht mehr. Die Technologietitel bluteten am stärksten. So verlor die Softwarefirma Oracle Japan 9,2 Prozent und schloss mit 16.300 Yen.

Die Börsenzahlen spiegeln die schlechte konjunkturelle Großwetterlage in Japan wider. Die lang ersehnte Erholung des Inselstaates stagniert, und das Wort Rezession ist in aller Munde. Der Nikkei-Index steht inzwischen dort, wo er vor dem verhängnisvollen Beginn der Seifenblasenwirtschaft im Jahre 1985 begann. Die in den darauf folgenden fünf Jahren künstlich aufgeblähten Immobilien- und Aktienpreise belasten die japanische Wirtschaft bis heute. Und in den zehn Jahren seit dem Platzen dieser Blase hat der japanische Bankensektor mit einem gigantischen Kraftaufwand rund 70 Billionen Yen (1.300 Milliarden Mark) an Problemkrediten abgeschrieben. Trotzdem lasten heute nach Schätzung der Ratingagentur Standard & Poor's immer noch rund 65 Billionen Yen (1.200 Milliarden Mark) an unbedienten oder problematischen Krediten auf den Bilanzen der Banken. Erst wenn diese Erblast beseitigt ist, kann Japan gesunden.

Die jüngste Talfahrt der Börse verschlimmert die Lage allerdings drastisch, weil sechs der neun großen Banken mit ihren umfangreichen Aktienbeständen bei einem Topixstand unter 1.250 Zählern schwere Verluste auf ihrem Aktienvermögen verbuchen. Am Freitag notierte der Topix, der alle Titel in der ersten Sektion der Tokioter Börse umfasst, auf 1.199,8 Zählern, dem Stand vom März 1999. Bei diesem Börsenstand schreibt allein die weltweit größte Bankengruppe Mizuho Holdings etwa 550 Milliarden Yen (10,1 Milliarden Mark) Verluste auf ihrem Aktienportefeuille. Noch ist Panikstimmung nicht angebracht, weil der für den Bankensektor maßgebliche Topix auch am Freitag noch weit über 980 Zählern stand. Das war das schicksalshafte Rekordtief im Oktober 1998, als Japan die schwerste Bankenkrise nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte und die Regierung mit Steuergeldern nachhelfen musste.

Neben der Börsentalfahrt geben eine fallende Industrieproduktion und der Druck der verlangsamten Konjunktur in den USA Anlass zur Sorge. Sicher ist, dass die japanische Währung unter Druck kommen und in den nächsten Monaten gegenüber Euro und Dollar stark nachgeben wird. Ebenso sicher ist, dass Japan spätestens im zweiten Quartal 2001 wieder in die Rezession abrutscht und die Welt sich auf neue Großkonkurse im Land der aufgehenden Sonne gefasst machen muss. All dies sollte die japanischen Wirtschaftsplaner und Politiker aus ihrer Lethargie reißen und zu drastischen Reformen motivieren.