: Im A-Train mit Louis Armstrong
Die Kritiker hassen ihn, weil er mit seiner Virtuosität bloß langweilt. Dabei spielt sich Wynton Marsalis sehr gelassen von New Orleans Sound zu Swing. Mit dem Lincoln Center Jazz Orchestra gab der Trompeter nun in der Berliner Philharmonie eine Nachhilfestunde in afroamerikanischer Kulturgeschichte
von CHRISTIAN BROECKING
Verglichen mit dem, was Wynton Marsalis zu Hause am New Yorker Lincoln Center erwartet, ist das hier ein Urlaubstrip. 25 zusätzliche Dollar-Millionen muss er in den nächsten Wochen noch für den Bau der ersten Konzerthalle der Welt organisieren, in der nur Jazz gespielt werden soll; 80 Millionen hat er für das Haus, das in zwei Jahren mitten in Manhattan eröffnet werden soll, schon zusammenbekommen. In New York ist Marsalis zurzeit vor allem Orchesterleiter, Komponist und Imageträger. Die New Yorker Tages- und Jazzpresse hasst ihn wegen seiner Beratertätigkeit für die „Jazz“-Serie des Dokumentarfilmers Ken Burns, die mit hohen Einschaltquoten kürzlich im amerikanischen TV gezeigt wurde – denn das Publikum scheint sich sichtlich wohl zu fühlen mit seiner Interpretation der Jazzgeschichte.
Wie erholt sich also der umstrittenste und einflussreichste amerikanische Jazzmusiker der vergangenen zwanzig Jahre? Er fährt nach Europa und predigt Swing. Den ganzen Kanon.
Seit fünf Wochen ist Wynton Marsalis mit seinem Orchester auf Tour, in London tanzten Simon Rattle und Gattin zu seiner Musik, am Sonntag spielte das Lincoln Center Jazz Orchestra in der Berliner Philharmonie. Seitdem das Berliner Jazzfest vor sechs Jahren mangels Publikum die Philharmonie verließ, um fortan kleinere Häuser zu bespielen, ist die Philharmonie mit ihren 2.400 Plätzen jazzmäßig verwaist. Dass nun ausgerechnet Wynton Marsalis mit einem so genannten Off-Day-Konzert die Halle fast ausverkaufte, kam unerwartet. Denn eigentlich residiert Marsalis momentan in Berlin, um mit Claudio Abbado, den Berliner Philharmonikern, großem Chor und dem Lincoln Center Jazz Orchestra seine Komposition „All Rise“ aufzuführen, zumindest einige Episoden der zwölfteiligen Suite. Für diese Abo-Konzerte, die heute und morgen noch in der Philharmonie stattfinden, war das magere Kaufkartenkontingent allerdings schnell vergriffen.
Die Kritik an dem Jazztrompeter ist über Jahre gleich geblieben: ein allzu enges Definitionskorsett, eine Virtuosität, die schnell ihren Glanz verliert und langweilt, und die Konservierung des alten, sprich: nicht mehr angesagten Jazz. Dabei klingt sein fünfzehnköpfiges Lincoln Center Jazz Orchestra längst nach gewachsener Struktur, sein Septett ist die Basis. Und Marsalis hat Recht, wenn er darauf besteht, dass sein Orchester mit keinem anderen vergleichbar sei. Tatsächlich spielen die Mingus Big Band oder das Sun Ra Arkestra – von einigen Kritikern gern als Alternativen herbeizitiert – doch eher auf Nebenschauplätzen im offkulturellen Abseits. Die Mingus Big Band ist eine heiße Livenummer, die donnerstags in einem kleinen Club im New Yorker Village spielt, ein Workshop-Ensemble, das nach dem Prinzip funktioniert: Wer keinen besseren Job an dem Abend hat, kommt. Daraus ergeben sich eine hohe Fluktuationsrate und einige wenig überzeugende CD-Produktionen. Das Sun Ra Arkestra hingegen ähnelt in seiner gegenwärtigen Verfassung eher einer Zirkuskapelle, die ohne den längst verstorbenen Direktor durch europäische Festivals irrt. Diese Bands mögen vielleicht und bestenfalls noch einen Spirit kommunizieren, der nicht in Notenschrift fixierbar ist und sich deshalb noch der Aufmerksamkeit von Wynton Marsalis entzieht, doch bezogen aufs Repertoire sind sie es eigentlich, die sich aufs Historisieren und Historie festgelegt haben.
Das aktuelle Marsalis-Programm „Armstrong And Beyond“ rast mit einer ansteckenden Gelassenheit durch die Jazzgeschichte, von frühen New Orleans Sounds bis zu aktuellen Kompositionen von Mitgliedern des Orchesters. In der Berliner Philharmonie führte das Lincoln Center Jazz Orchestra mit seiner Version des Mingus-Klassikers „The Shoes of the Fisherman’s Wife Are Some Jive-Ass-Slippers“ schon mal vor, dass sein Potenzial zum Umgang mit der Tradition noch längst nicht erschöpft ist, und die Marsalis-Komposition „Back To Basics“ klang wie eine Antwort auf die Kritiker. Was Anfang der Neunzigerjahre von vielen Beobachtern als Werbemaßnahme für Armani-Anzüge gründlich missverstanden worden war, entpuppte sich sehr bald als Nachhilfestunde in afroamerikanischer Kulturgeschichte. Miles Davis war zeitlebens auf der Suche, in seiner Musik das überwältigende und prägende Gefühl wieder einzufangen, das er als Kind gehabt hatte, als er die „wahnsinnigen Gospelsongs aus der Kirche“ hörte. Marsalis nähert sich heute diesem Ziel von Konzert zu Konzert.
Nächster Termin: 9. 3., Frankfurt a. M.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen