Schlöndorff für die Sahara

Nach dem Bürgerkrieg gibt es in Algerien ein überwältigendes Bedürfnis nach kulturellem Leben – und nach Kino. Festivals und Freiluftaufführungen finden statt, doch die Produktionslage ist nach wie vor desaströs. Einige Eindrücke vom Neuanfang

von BARBARA LOREY DE LACHARRIÈRE

Während langsam die Sonne hinter den Dünen untergeht, spannen die Techniker des CDC (Centre diffusion cinématographique) die Leinwand vor das niedrige Gebäude aus rotem Lehm. Immer mehr Kinder scharen sich um den weißen Kinobus, der auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes steht. Die Nacht fällt schnell hier in der südalgerischen Wüste, und als wenig später der Filmprojektor angeworfen wird, hat sich der Platz bereits gefüllt. Auf der einen Seite stehen die in weiße Burnusse und Chechs gehüllten Männer, weiter abseits die Frauen und Kinder. Alle starren gebannt auf die Leinwand.

„L’Arche du Désert“, ein allegorisches Märchen über die Gewalt und ihre Wurzeln, das der Regisseur Mohammed Chouikh vor vier Jahren genau hier mit den Einwohnern gedreht hat, ist immer noch der absolute Kinohit in der roten Oase Timimoun. Für Chouikh war der Film damals ein Akt des Widerstands gegen die Barbarei und den Obskurantismus in Algerien. Am Ende des Films läuft der kleine Held Selim mit rußgeschwärztem Gesicht in die Wüste hinaus und ruft: „Ich gehe weg, weil ich in Frieden leben möchte. Ihr verbrennt alles. Ihr schlagt und ermordet sogar die Kinder. Die Erwachsenen haben den Verstand verloren.“

Von der blutigen Gewalt, die bis vor kurzem das Land zerriss, ist hier, im tiefen Süden der Sahara, wenig zu spüren. Außer, dass die Touristen nicht mehr kommen, die Hotels verfallen, und die Armut größer geworden ist. „Welcome to Timimoun, 3. Festival International Cannes Junior“ steht auf den weißen Plakatfahnen, die vor der Fassade des Hotels Oasis Rouge aufgehängt sind und dem afrikanisch anmutenden roten Lehmgebäude einen absolut surrealen Touch verleihen. Der zehnjährige Amin, alias Selim, sitzt im Innenhof und spielt mit anderen Kindern Gameboy. Seine Mutter, die Cutterin Yamina Chouikh, und seine drei größeren Schwestern verteilen gerade die Tickets für das Mittagessen an die Festivalgäste.

Die Organisation dieses Very-low-budget-Filmfestivals, einer Mischung aus Kinder- und Erwachsenenfilmfest, liegt ganz in den Händen der Familie Chouikh, und die Tatsache, dass es überhaupt stattfinden konnte, grenzt an ein Wunder. Unterstützt wird es vor Ort von einem im letzten Jahr gegründeten Verein, der sich von dem Event wohl vor allem auch eine Wiederbelebung des Tourismus in der Region erhofft.

Mit dem Kinobus in die Festivaloase

Yamina Chouikh ist eine erstaunliche Frau, klein und schmal, aber von scheinbar unerschöpflicher Energie. Die Chouikhs haben viele Freunde durch Attentate oder Emigration verloren – dennoch haben sie sich dafür entschieden, das Land nicht zu verlassen. Nicht zuletzt ihrer vier Kinder wegen, die, so Yamina, in ihrer Heimat aufwachsen sollen. „Wir wollen sie nicht zu Exilanten machen“, sagt sie. „Dieses Land gehört auch uns.“ Drei volle Tage haben die beiden Kinobusse für die 1.000 Kilometer von Algier bis nach Timimoun gebraucht. Sie unterstehen Lyes Semian, dem unermüdlichen, stets Baseballkappe tragenden Direktor des mobilen Kinounternehmens CDC. Die insgesamt dreizehn Kinobusse sind ein Erbe des Propagandadienstes der französischen Armee. Nach der Unabhängigkeit standen sie im Hafen von Algier herum und wurden dann in Cinémas populaires verwandelt. So durchstreifen sie elf Monate im Jahr die ländlichen Gegenden Algeriens bis in die entlegensten Oasen der Sahara und spannen dort ihre Leinwand auf den Marktplätzen auf.

Direktor Lyes Semian hat nicht nur die gesamte einheimische Filmproduktion im Programm, sondern auch Filme aus Frankreich, Italien und den USA. „Wir können gar nicht allen Anfragen nachkommen“, sagt er. „Aber an neue Busse ist gar nicht zu denken. Erst recht fehlt das Geld, um neue Filme zu erwerben.“ So wird sein Wunsch, ein Dutzend deutsche Filme wie von Fassbinder oder Schlöndorff in seine Filmothek aufnehmen zu können, sicher erst einmal ein Traum bleiben.

Neun Uhr abends. Auf dem Marktplatz von Timimoun geht es hoch her. Tausende von Menschen drängeln sich auf dem staubigen Platz. Auf der zwischen zwei Masten aufgespannten Leinwand tobt Gillo Pontecorvos 1965 entstandener Film „Die Schlacht um Algier“ über den algerischen Unabhängigkeitskampf. Nur hundert Meter weiter tanzt wie in Trance eine Gruppe weißverhüllter und uralte Gewehre schwingender Berber. Plötzlich fallen Schüsse. Die Journalisten aus Algier springen verschreckt auf – und brechen erleichtert in Gelächter aus. Hier wird nur aus Begeisterung in den Boden geschossen.

Spätabends im Innenhof des Hotels versammeln sich ausländische Gäste und algerische Journalisten um ein Lagerfeuer aus vertrockneten Palmwedeln. Rotweinflaschen zu halsabschneiderischen Preisen machen die Runde. Die Journalisten sind glücklich, viele von ihnen entdecken zum ersten Mal den Süden ihres Landes und fühlen sich hier in der Stille und Abgeschiedenheit der Oase wie auf einem anderen Stern. „Als ich letztes Jahr zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Film im Kino gesehen habe, hatte ich das Gefühl, endlich wieder zur Menschheit zurückzukehren“, sagt Hafid, ein Journalist aus Algier. „Wir leben in einem absurden Land, wo Gott die schwarze Brille aufsetzt, um nicht von seinen Fans erkannt zu werden.“

Am nächsten Morgen. Hinter einer hohen Mauer versteckt liegt das örtliche Cinéma populaire mit seinen 250 Plätzen. Seit über zehn Jahren steht es leer – bis Chouikh und Burtschell es jetzt aus seinem Dornröschenschlaf gerissen haben. Eine riesige Horde von Kindern drängelt sich vor dem kleinen Eisentor, es wird geschubst, geschoben, gestoßen. Einige Jungen klettern auf die Mauer und versuchen, auf die andere Seite hinunterzuspringen. Aber der Ortspolizist in seiner blauen Uniform, der den Eingang bewacht, wedelt bedrohlich mit dem Schlagstock.

Nachdem die Kinder während des Festivals im letzten Jahr einige Sitze demoliert hatten und Schlägereien im Saal ausgebrochen waren, wurde diesmal beschlossen, sie nur unter Aufsicht der Lehrer in den Saal zu lassen. Und so bleibt jedesmal eine ganze Reihe von Kindern außen vor. „Titanic“, flüstert der kleine barfüßige Junge mit der Rotznase, der nicht zu den Auserwählten gehört, und schaut mich sehnsüchtig an, „Titanic“? Aber „Titanic“, das war einmal, und amerikanische Filme stehen diesmal nicht auf dem Programm.

Neue Moscheen,verfallende Kinos

Es wird bereits dunkel, als das Flugzeug, das die Gäste am Abend nach Algier zurückbringt, endlich abhebt. Tief unten verschwindet Timimoun, ein kleiner, grüner Fleck in einem Ozean von Sand.

Landung in Algier mit mehreren Stunden Verspätung gegen Mitternacht. Die rote Oase scheint auf einmal Lichtjahre entfernt zu sein. Es gibt keine Taxis mehr am Flughafen, allgemeine Panik unter all denen, die außerhalb des Stadtzentrums wohnen und nicht wissen, wie sie nach Hause kommen sollen. Die algerische Realität mit ihren Straßensperren und Polizeikontrollen hat uns wieder eingeholt.

Auf den ersten Blick scheint es, als habe sich Algerien von dem jahrelangen Bürgerkrieg langsam erholt. Doch kein Tag vergeht, ohne dass die Zeitungen von neuen Blutbädern berichten, immer noch prägen Straßensperren das Stadtbild, bleiben die ausländischen Kulturinstitute bis auf weiteres geschlossen. Viele Hoffnungen, die kurz nach den letzten Wahlen geweckt wurden, haben sich zerschlagen. Die Amnestie, die den Terroristen gewährt wurde, ist von einem Großteil der Bevölkerung wie ein Schlag ins Gesicht empfunden worden, als eine Negation des Rechtsstaats und politische Bankrotterklärung. „Das Konkordat hat sich zu einer zunehmenden Islamisierung der Gesellschaft entwickelt, ohne die Terroristen, aber in ihrem Sinne“, schreibt eine algerische Zeitung.

Die Zeichen sind tatsächlich nicht zu übersehen. Überall entstehen neue Moscheen, die in krassem Gegensatz zu den hoffnungslos verfallenen Gebäuden in den dicht besiedelten Stadtvierteln stehen. Dennoch ist überall ein überwältigendes Bedürfnis nach öffentlichem kulturellem Leben zu verspüren. So wurde das erste französische Filmfestival, das letzten September in Algier in einem Freilichtkino stattfand, jeden Abend von den über dreitausend euphorischen Zuschauern regelrecht gestürmt. Für viele der jüngeren Besucher war dies das erste Mal, dass sie einen Film wie zum Beispiel die französische Kommerzkomödie „Taxi 2“ statt im Fernsehen auf einer richtigen Leinwand sehen konnten.

Von den noch 1986 existierenden 400 Kinosälen in Algerien funktionieren heute nur noch ein gutes Dutzend. An die hundert andere ehemalige Kinos verfügen lediglich über Videoprojektoren, die meistens sogar schlichtweg Raubkopien projizieren, für die der Staat dann auch noch Steuern kassiert. Der Enthusiasmus, der sich anlässlich einzelner Festivals und Vorführungen Bahn bricht, kann über die lang anhaltende, tiefe Krise, in der sich der gesamte algerische Filmsektor befindet, nur kurzfristig hinwegtäuschen. Die Zuschauerzahlen sind von 40 Millionen auf 50.000 gesunken. Damit haben sich auch die Förderungen für die Filmproduktion, die früher aus Eintrittsgeldern finanziert wurden, auf einen lächerlichen Betrag reduziert.

„Heute in Algerien produzieren zu wollen, grenzt an Wahnsinn. Es gibt keinen nationalen Markt“, sagt Regisseur Mohammed Chouikh, einer der ganz wenigen Filmemacher, die im Lande geblieben sind und der mit Belkacem Hjadadj („Machado“, 1996) und Abderrahmane Bourguemouh, („La Colline oublié“, 1996) zu den wenigen Regisseuren gehört, die in den letzten Jahren überhaupt noch einen Spielfilm in Algerien gedreht haben.

Nach dem Terror vom Terror erzählen

Die kurz nach der Unabhängigkeit gegründete Kinemathek von Algier, ein Mythos für eine ganze Generation von Kinofans, hat heute keinen Pfennig mehr.

Aber Boudjema Kareche, der die Institution seit 1978 leitet, ist ein Mann, der sich nicht unterkriegen lässt. Mit derselben Courage, mit der er bis Ende der Achtzigerjahre von den Zensoren bedrohte, nicht ideologiekonforme algerische Filme geschickt in unmarkierten Filmdosen unter sein Archiv mischte, hielt er auch in den schlimmsten Jahren der Terroranschläge sein Kino geöffnet. Ungeachtet aller Drohungen. Genauso wie die anderen dreizehn Kinosäle im Land, die der Kinemathek angeschlossen sind. Gerade Kinosäle waren besonders anfällig für Anschläge und wurden während der Terrorzeit folglich nach und nach geschlossen.

Für den Zusammenbruch des algerischen Filmwesens ist jedoch nicht nur der islamische Terror verantwortlich, sondern auch die langsame Zerstörung der gesamten Infrastruktur, die ab 1996 mit der Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen einherging.

Hinzu kommt, dass seit der Auflösung der staatlichen Filmstellen vor drei Jahren das gesamte Material inklusive Kameras, Labors, Schneideräume und technische Ausstattung beschlagnahmt wurde und seither hinter Schloss und Riegel auf seine „Abwicklung“ wartet.

Dank der verstärkten Unterstützung von französischer Seite wird es dieses Jahr dennoch zwei neue Filme aus Algerien geben. Yamina Chouikh wird im Februar mit den Dreharbeiten zu ihrem ersten eigenen Film beginnen: die Geschichte einer Lehrerin, die in einen Terroranschlag verwickelt wird. Der in Paris lebende algerische Regisseur Merzak Allouache hat im letzten Sommer zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder einen Spielfilm in seinem Heimatland gedreht. „Le Journal de Yasmine“ erzählt eine dramatische Liebesgeschichte, die sich vor dem Hintergrund der Gewalt im Süden Algeriens und in Oran abspielt.

Immerhin: Die Stadt Algier hat inzwischen mit der Renovierung der Kinosäle begonnen. Einige private Sponsoren planen sogar, ein kleines Multiplex am Stadtrand von Algier zu bauen.