Am Zucker hängt doch alles

Mit 97 Jahren muss Alfredo López Machado noch immer auf dem Feld schuften. Ausbeutung? Aber nein! Sein Vater war doch noch als Sklave geboren

aus Kuba JÜRGEN SCHÄFER

Alfredo López Machado ist nicht groß, knapp eins sechzig, schmal gebaut. Über dem eingefallenen Brustkorb hängt faltige Haut, auch die Schultern haben längst der Schwerkraft nachgegeben und sich nach vorn und unten geneigt. Die Oberarme waren früher fester, jetzt sind sie ausgezehrt. Doch dicke, pralle Adern ziehen sich vom Hals über Schultern und Arme, hin zu den beiden Kraftwerken: Alfredos massige Hände scheinen zu einem viel größeren Körper zu gehören; Schwielen überziehen die Handflächen, die Finger sind prall geschwollen unter zu viel Kraft. Siebenhunderttausend Zentner Zuckerrohr hat Alfredo López Machado mit diesen Händen geschlagen und er hat noch nicht genug. Anfang Januar feierte Alfredo seinen 97. Geburtstag, natürlich auf dem Feld: Es ist Zafra, Zuckerrohrernte, und der Alte kann nicht, will nicht zu Hause sitzen. Die Arbeit der Macheteros, der Zuckerrohrarbeiter, gilt auf Kuba als härtester Job, doch Alfredo López Machado widerlegt die Weisheit, dass Zafra-Arbeiter früh altern. In diesem Jahr schlägt er mit seiner 81. Zafra alle Rekorde, und die Parteizeitung Granma feiert ihn als Nationalhelden: einen einfachen Arbeiter, bescheiden und revolutionstreu. Und weit über dem Plansoll.

Alfredo López arbeitet für die Zuckerfabrik „Caracas“, die vierzig Kilometer von der Provinzhauptstadt Cienfuegos liegt, nahe der geografischen Mitte Kubas, inmitten jener endlosen Zuckerrohrfelder, die fast die gesamte Insel zu überziehen scheinen. Aus dem Doppelschornstein quillt weißer Rauch, und die Fabrik ist kilometerweit zu riechen: ein Gestank nach altem Rum und Güllegrube hängt über dem Land, zugleich süß und scharf. Caracas erinnert an ein Rauch speiendes Monster aus Vorzeiten der industriellen Revolution, das im 24-Stunden-Betrieb Zuckerrohr zerkleinert, Saft presst, Zucker kocht. Der Werksverkehr rollt durch schwarzbrackige Pfützen, die beiden Rangierdampfloks husten Rußwolken, und aus den Ventilen der Zuckerkochtöpfe zischt klebriger Dampf, der sich auf die Werksbaracken legt wie eine Schmierglasur.

Karrierist ohne Ahnung

Der Direktor hat sein Büro irgendwo da hinten, sagen die Arbeiter und deuten auf den Verwaltungsbau. Wie er heißt? Sie schauen sich fragend an und einigen sich auf Marco, nein, Miguel. Im Büro von Subdirektor Jeovani Varela, der das dampfende Monstrum regiert, pflastern Porträts der revolutionären Dreieinigkeit aus Fidel Castro, Che Guevara und Camilo Cienfuegos die Wände. Varela ist gerade mal dreißig Jahre alt und hatte Medizin studiert, als ihm eine rasante Parteikarriere in der Zuckerindustrie eröffnet wurde. Viel Ahnung hat er nicht, er kann die üblichen Gewichtseinheiten nicht umrechnen, weiß gerade, dass „zwischen tausend und zweitausend“ Leute in seiner Fabrik arbeiten. Zuckerrohr werde im November ausgesät und im Januar geschlagen, sagt er, was nicht stimmt: Es liegt ein Jahr zwischen Saat und Ernte. Ob die Fabrik auf vollen Touren arbeite? „Nicht direkt“, sagt Varela und verschränkt die Arme vor der Brust und schaut weg. Weiteren Fragen zum Thema weicht er aus. Und, nein, die Fabrik dürfe man nicht fotografieren.

Zucker und Zafra werden in Kuba wie Staatsgeheimnisse gehütet. Darüber, wie die aktuelle Ernte ausfällt, die Mitte Dezember begann und bis April dauern wird, ist im Parteiorgan Granma nichts zu lesen. Den auf Kuba geltenden Grundsatz vor Augen, dass nur gute Nachrichten es wert sind, gedruckt zu werden, schloss der nach umgekehrten Prinzipien operierende Miami Herald, die Zafra 2000/2001 werde ein „ökonomisches Desaster“. Wie glaubwürdig die Informationen sind, ist allerdings eine andere Frage: Der Miami Herald versucht seit vierzig Jahren vergeblich, Castros Revolution in den Ruin zu schreiben.

Wirtschaftsminister Carlos Lage kündigte zu Beginn der derzeitigen Ernte an, sie werde etwas geringer ausfallen als im vergangenen Jahr, was aber durch einen etwas höheren Weltmarktpreis des Zuckers ausgeglichen werde. Schuld an den Ausfällen sei die Trockenheit im letzten Sommer. In den Feldern rund um Caracas gibt es allerdings noch andere Gründe für Ernteausfälle: In der Kooperative „La Lima“ liegt das geschlagene Rohr tagelang auf dem Feld, eine Todsünde, weil mit jeder Stunde der Zuckergehalt des Ernteguts sinkt. Von den zwei mit Greifbaggern ausgerüsteten Traktoren funktioniert nur einer, außerdem fehlt es an Güterwaggons, um die Rohre in die Fabrik zu bringen. Also müssen die Macheteros nach dem Mittagessen nach Hause.

Sie gehen murrend, denn obwohl die Arbeit hart ist, will keiner am Monatsende Einbußen hinnehmen. Längst werden den Macheteros im sozialistischen Kuba Akkordlöhne bezahlt. Wer, wie Provinzchampion Alfredo Torres, ein breitschultriger Weißer um die fünfzig mit weißgrauem Haar und schmalen Augen, breite Schneisen im Feld hinterlässt und mehr als elf Tonnen Zuckerrohr am Tag schlägt, kann tausend kubanische Pesos verdienen, rund hundert Mark – auf Kuba ein Rekordgehalt, mehr, als ein Gehirnchirurg bekommt.

Doch das mit den Gehältern ist in Kuba vertrackt. Ein Machetero bekommt sein mehr als üppiges Mittagessen für 20 Pfennig, morgens Kaffee für 2 Pfennig, für Gas und Wasser bezahlt er im Monat 1 Mark, Miete zahlt er keine und auch nichts für die Gesundheitsvorsorge – was angesichts der exzellent ausgestatteten Poliklinik in der Nähe der Fabrik nicht zu unterschätzen ist. Dort stehen für zehntausend Einwohner unter anderem ein Dutzend Zahnarztstühle nebst Personal rund um die Uhr bereit, kostenlos.

Das tägliche Nichts

Nach kubanischer Rechenart reichen hundert Mark also für fünfhundert Mittagessen. Aber sie reichen in Wahrheit gerade für das Nötigste: Seife und Shampoo, Speiseöl und Fleisch gibt es nur gegen Dollars, da ist auch ein Rekordlohn schnell aufgebraucht. Was dazu führt, dass Alfredo López, das siebenundneunzigjährige Machetero-Wunder, nicht der Einzige mit weißen Haaren in seiner Arbeitsbrigade ist. „Von den Jungen will keiner hier schuften“, sagt einer der Arbeiter, „das ist zu viel Arbeit für zu wenig Geld.“ Wer in den Touristenzentren Auswärtige auftreibt, kann mit einer Kiste falscher Zigarren so viel verdienen wie ein Machetero in einer Woche.

Den Alten wiederum bleibt nicht viel anderes übrig: „Ich bekomme hundertvierzig Pesos Rente, das wäre in den aAchtzigerjahren viel Geld gewesen. Aber heute, wo sich alles in Dollars rechnet? Wie soll ich davon leben?“, sagt ein sechsundsechzigjähriger Machetero. Also bleibt er der Brigade treu, auch wenn es in den Gliedern schmerzt, drei Monate lang jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen und dann acht, neun Stunden in drückender Hitze gegen eine mannshohe Wand aus dachlattenstarken Halmen anzurennen. Für eine Flasche Sonnenblumenöl muss der aktive Rentner wider Willen gut zehn Tonnen Zuckerrohr schlagen, was ihn zwei Tage Arbeit kostet.

Rekordmachetero Alfredo López Machado will von derart kleinlichen Rechnereien nichts wissen. Sein Vater war noch als Sklave geboren und kämpfte gegen die spanische Kolonialmacht, López selbst kann sich an Zeiten erinnern, als niemand im Dorf Schuhe hatte, kaum jemand lesen konnte und die nächste Arztpraxis so weit weg war, dass die Kinder am Fieber starben, bevor nur jemand den Doktor alarmieren konnte. Was nicht heißt, dass der überhaupt gekommen wäre. Weshalb Alfredo, Held der Arbeit, doppelter Witwer und Vater von zehn offiziellen „und drei inoffiziellen“ Kindern, Opa einer Herde von Enkeln, heute mit seinen 97 Jahren nur noch ein Ziel im Leben hat: dass seine zerschundene Hand die Hand von Fidel Castro schütteln kann.

Ein blonder Nachbarsbub, der in der Nachmittagshitze vor dem Haus von Alfredo López Machado seinen Kater spazieren führt, hat andere Pläne. Ob er auch Machetero werden wolle? Der Achtjährige schüttelt den Kopf. Was will er dann werden, wenn er erwachsen ist? Strahlt die Rotznase übers ganze Gesicht: „Tourist.“