Geschichten vom Überleben

Für ihre Aufklärungsarbeit über die Nazis wird die Sinti Philomena Franz als „Frau Europas“ geehrt

von NICOLE MASCHLER

An den Tag, an dem ihr Sohn weinend nach Hause kam, erinnert sich Philomena Franz genau. Die Mitschüler hatten den Jungen als „schmutzigen Zigeuner“ verhöhnt. Franz, deren Familie nach Auschwitz verschleppt wurde, ging zum Rektor: „Man muss doch etwas tun.“

Das war 1975. Sinti und Roma kämpften noch um eine Anerkennung ihrer Leiden, und Philomena Franz reiste durchs Land, um in Klassenzimmern und Gemeindesälen aus dem Märchenschatz ihres Volkes zu lesen und ihre eigene Geschichte zu erzählen. Für ihr Engagement erhält die 78-Jährige nun den Preis „Frauen Europas“ der „Europäischen Bewegung Deutschland“. „Nirgendwo“, sagt Franz, „sind Leid und Lebensmut meines Volkes so greifbar wie in den Märchen.“ Überlebensgeschichten, traurig und zugleich voller Hoffnung.

An ihre eigene Kindheit denkt Philomena Franz mit Wehmut zurück. Der Vater, ein bekannter Cellist, besaß ein Haus in der Nähe von Stuttgart, reiste mit Frau und den acht Kindern im Wagen durchs Land. Schon als Siebenjährige sang Philomena im Pariser Lido und im Berliner Wintergarten. Dann kamen die Nazis und nahmen der Familie die Pässe ab, die Kinder mussten die Schule verlassen. Mit der Deportation 1942 begann für Philomena eine Odyssee durch die Konzentrationslager: Auschwitz, Ravensbrück, Oranienburg.

Die heutigen Jugendlichen, sagt Philomena Franz und streicht das noch immer pechschwarze Haar energisch zurück, wüssten erschreckend wenig über die Verbrechen der Nazis. „Wir müssen an die Jugend ran.“ An die Generation, die einmal das Land regiere und gestalte. „Das“, sagt Franz, und es klingt bitter, „wäre eigentlich Aufgabe der Deutschen gewesen.“

Doch die Bundesrepublik tat sich schwer. Erst 1982 erkannte die SPD-Regierung den Völkermord an Sinti und Roma an. Entschädigung haben nur wenige Überlebende erhalten. Die meisten mussten wie Philomena Franz um eine Rente kämpfen. Am Ende erhielt sie knapp 700 Mark im Monat und eine einmalige Wiedergutmachung von 15.000 Mark.

Jahrelang wurde Franz verfolgt: von den Gaskammern, den Schreien der Gefolterten, den Fratzen der SS-Männer. Sie hat es sich von der Seele geschrieben. 1980 erschien ihre Autobiografie „Zwischen Liebe und Hass“.

Sie selbst habe verziehen, sagt Philomena Franz. „Wenn wir hassen, verlieren wir.“ Für sie ist und war Deutschland Heimat. „Ich liebe dieses Land, ich kenne kein anderes.“