Fachkräftemangel bedroht Wachstum

Branchenverband Bitkom prognostiziert bis 2003 achtzehn Prozent unbesetzte Stellen. Am stärksten könnte der Arbeitskräftemangel junge Firmen treffen. Die Branche fordert kürzere Ausbildung und ein Zuwanderungsgesetz

BERLIN taz  ■ Die Internetfirma Micrologica vor dem Aus, Intershop-Aktien abgestürzt, Letsbuyit.com fast Pleite. Angesichts solcher Nachrichten könnte man meinen, die Internet-Branche hat bald viele arbeitslose Fachkräfte. Weit gefehlt.

“Die Hochschulen können gar nicht genug Informatiker ausbilden“, sagt Jörg Menno Harms, Vizepräsident des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, kurz: Bitkom. Harms stellte gestern in Berlin eine Studie des European Information Technology Observatory vor, die sich mit dem Fachkräftemangel in der Internetbranche und in Callcentern beschäftigt. Im vergangenen Jahr gab es in Westeuropa 10,4 Millionen IT-Jobs, 1,2 Millionen oder 12 Prozent blieben aus Mangel an geeignetem Personal unbesetzt. Die Tendenz ist steigend: „Die Callcenter mitgerechnet, werden im Jahr 2003 achtzehn Prozent der angebotenen Stellen unbesetzt bleiben“, sagte Harms. Das größte Arbeitsmarktwachstum sehen die Autoren bei Callcentern. Arbeitslose Informatiker bleiben die Ausnahme, weil traditionelle Unternehmen und der Mittelstand den Einbruch der New Economy wieder auffangen.

Innerhalb Westeuropas drohe Deutschland der stärkste Fachkräftemangel. Am wenigsten treffe es die skandinavischen Länder. „Wir beobachten in Europa ein Nord-Süd-Gefälle. Länder mit einer hohen Aufgeschlossenheit gegenüber der englischen Sprache trifft es am wenigsten“, so Bernhard Rohleder, Geschäftsführer von Bitkom.

Harms forderte eine bessere Ausbildung an deutschen Universitäten. „Die Absolventen sind erstklassig, aber sie studieren zu lange.“ Er bemängelte zudem, dass die Hälfte aller Informatikstudenten ihr Studium vor der Abschlussprüfung abbricht. Investitionen der Wirtschaft in die Ausbildung lehnte er ab, obwohl nach seiner Einschätzung europaweit weniger Wirtschaftswachstum droht, wenn der Mangel nicht behoben wird. “Die europäischen Volkswirtschaften laufen Gefahr, im Jahr 2003 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 2,5 bis 3 Prozent nicht zu realisieren, weil die Spezialisten fehlen, um die Potenziale auszuschöpfen“, sagte Harms. Die Greencard-Regelung, um den Bedarf auszugleichen, hält er für eine Übergangszeit praktikabel. Harms: „Wir brauchen aber ein Einwanderungsgesetz.“

Nach Ansicht von Silke Mathias, Sprecherin des Internet-Arbeitsvermittlers Worldwidejobs, wird der Arbeitskräftemangel besonders junge Firmen treffen: „Viele Absolventen zieht es inzwischen in traditionelle Unternehmen. Sie wollen keine Arbeitstage von zwölf Stunden. Und die Aktienoptionen der Start-ups locken nun wirklich keinen mehr.“ RALF GEISSLER