Leben hinter Barrikaden

Geschlossene Geschäfte, zerschossene Häuser, leere Straßen: Mit der Intifada ist das öffentliche Leben im Gaza-Streifen zusammengebrochen

aus Gaza SUSANNE KNAUL

In normalen Zeiten würde es eine halbe Stunde dauern, mit dem Auto von der Stadteinfahrt von Gaza zum Meer zu fahren. Kaum fünf Minuten braucht man für dieselbe Strecke in diesen Tagen. Der Verkehr fließt wie an Feiertagen, denn nur noch wenige Leute fahren zur Arbeit. Die Straßen sind leer, das Geschäftsleben ist zum Erliegen gekommen. Grund dafür ist nicht der Mangel an Angeboten, sondern an Kaufkraft. Früchte und Gemüse sind im Überfluss vorhanden, seit der Export der palästinensischen Agrarprodukte via Israel vollkommen zusammengebrochen. Gleichzeitig haben die Palästinenser im Gaza-Streifen kaum noch Geld, die nötigsten Nahrungsmittel einzukaufen.

In einem kleinen Laden in einer Seitenstraße frieren drei vom Regen durchnässte Truthähne in ihrem Käfig und warten darauf, in den Kochtopf zu kommen. Federvieh und Vierbeiner sind vermutlich die einzigen Nutznießer der Misere, die ihr trauriges Dasein um gewisse Zeit verlängert. In diesen Tagen begehen die frommen Muslime das Id al-Adcha, das heilige Opferfest. Wer es sich leisten kann, schlachtet ein Tier, üblich sind Schafe oder Ziegen. In diesem Jahr bleibt das Schlachten aus.

Die wirtschaftliche Not der Menschen rührt vor allem von den Reisesperren her, die das israelische Militär seit Beginn der Unruhen verhängt hat. Besonders schwer von der Situation betroffen sind Familien, deren Häuser in Zonen liegen, die aus israelischer Sicht strategische Bedeutung haben. Am Al-Matachen-Kontrollpunkt riss die israelische Armee kurzerhand 25 Häuser ab, in denen mehr als 40 Familien wohnten. Hunderte von Baumstümpfe lassen erahnen, wie die Gegend ausgesehen hat, bevor die Armee Stacheldraht und Betonblöcke brachte, um mit Barrikaden den Gaza-Streifen zweizuteilen. Al-Matachen heißt die Region unmittelbar vor der jüdischen Siedlung Gusch Katif.

Verrückt vor Angst

Hier liegt einer der Straßenkontrollpunkte zwischen Gaza-Stadt im Norden und Rafiach im Süden. Der Kontrollpunkt wurde in den vergangenen Wochen immer wieder gesperrt. Wer Glück hat und an einem Tag kommt, an dem der Kontrollpunkt offen ist, kann sich in die Reihe der hier offenbar immer wartenden Autoschlange einreihen und auf ein Handzeichen des Soldaten, der in einem Panzer am Straßenrand sitzt, durch den Kontrollpunkt durchfahren.

„In der vergangenen Woche hat mein Mann mehr als zwei Stunden warten müssen“, berichtet eine junge Frau, die zu ihrer Familie im südlichen Gaza-Streifen will. Sie sei „fast verrückt“ geworden vor Angst, denn ihr Mann hat ihre Anrufe nicht beantwortet. Er traute sich nicht, sein Mobiltelefon aus der Jackentasche zu holen aus Sorge, die Israelis könnten es für eine Pistole halten. „Sie schießen auf alles, was sich bewegt.“

„Mutter, sei nicht traurig, wenn ich gehe, denn ich komme ins Paradies“, steht mit roter Sprühfarbe am Tor eines Gemüseladens. In der Marktstraße im Flüchtlingslager von Dir al-Balach findet seit Wochen kein Handel statt. Die Straße liegt im Schussfeld der israelischen Soldaten. Die Rolläden sind verschlossen und mit frischen Graffitis besprüht. „Nur der Kampf ist unser Weg“, steht dort oder „Keine Kompensation für Land“, mit Blick auf mögliche Kompromisse in der Flüchtlingsfrage. Die Flüchtlinge bestehen auf ihr Recht auf eine Rückkehr in ihre Heimat und lehnen Kompensationen für das Land ab. Die große Mehrheit im Gaza-Streifen lebt erst seit 1967 oder längstens seit 1948 hier, als ihre Väter und Großväter aus dem heutigen Israel flohen. Das Flüchtlingslager von Dir al-Balach ist größer als der Ort selbst, ähnlich ist es im südlicher gelegenen Khan Younis. Dort hat Achmad Mifridg alias Abu Khmeid sein Büro. Er ist Chef der polizeilichen Nationalen Sicherheit im südlichen Abschnitt des Gaza-Streifens.

Der hochgewachsene, grau melierte Endfünfziger, der freundlich zu süßem Tee und arabischem Kuchen einlädt, berichtet, dass sich die Leute schärfere Angriffe gegen die Besatzer wünschten. Er selbst sei bereits von Palästinensern angegriffen worden, weil er „zu sanft“ reagiert hatte. Die israelischen Soldaten drängen in die A-Zone ein, die entsprechend den Abkommen unter voller Souveränität der Palästinenser steht. „Die versiegeln unsere Städte“, schimpft Mifridg, „sie verletzen getroffene Abkommen und halten die Grenzen verschlossen.“ Vor kurzem von den Israelis eingeführte Konditionen für frisches Gemüse, das von nun an in weiße Plastiktüten gepackt werden muss, führten zudem dazu, dass empfindliche Früchte wie Erdbeeren und Tomaten schon auf dem Transport verfaulten.

Große Sorgen machen Mifridg die Bauern aus der Mawasi-Region. Seit fünf Monaten ist das Gebiet, in dem rund 9.000 Menschen leben, gesperrt. „Wir können nichts für sie tun“, sagt Mifridg kopfschüttelnd und mahnt zur Vorsicht, als wir uns von ihm verabschieden. Al-Mawasi liegt unmittelbar am Mittelmeer zwischen Dir al-Balach und Khan Younis. In der Gegend willkürlich verteilt liegen vier kleine jüdische Siedlungen. Hier leben fast nur Bauern. Die Straße, die vom Flüchtlingslager Khan Younis runter zum Meer und nach Al-Mawasi führt, ist mit riesigen Sandsäcken verbarrikadiert.

Nur Kinder und Bauern

Die rund zwei Meter hohen Barrikaden sind versetzt aufgebaut und können nur im Zickzack passiert werden, um den Weg auf der anderen Seite fortzusetzen. Rund 200 Meter hinter der Barrikade sitzen die israelischen Soldaten und beobachten jeden Passanten durch das Zielfernrohr ihrer Gewehre. Nur die Leute aus Al-Mawasi dürfen die Kontrolle passieren. Das sind die Kinder, wenn sie zur Schule gehen, und die Bauern, die ihre Ware in weiße Plastiktüten verpackt zum Weitertransport bis zur Barrikade der Sandsäcke tragen. Mit 20 oder 30 Kilo auf dem Rücken laufen sie den Weg bis zum Rand des Flüchtlingslagers, um ihre reifen Bohnen, Tomaten und Gurken vor dem Verderb zu bewahren.

Die letzten hohen Häuser vor der Sandsack-Wand stehen seit langem leer. Sie sind so zerschossen wie nach einem Bürgerkrieg. Nur die flachen Baracken am Rand des Flüchtlingslagers von Khan Younis scheinen noch bewohnt zu sein. Drei Schulmädchen in Uniform drängen sich rechts von der Sackwand durch in eine schmale Gasse, die ebenfalls voller Sandsäcke steht, um Schutz zu bieten, wenn wieder geschossen wird. Die drei Mädchen führen uns zu ihrem Vater, dem Grundschullehrer im Lager. Amin Abu Abbeid berichtet, dass die Familie nur noch tagsüber hier lebt und nachts zu Verwandten geht. Die ärmliche Behausung weist nicht nur viele Einschusslöcher auf, sondern auch ein etwa Medizinball-großes Loch im Wellblechdach, durch das eine Granate gefallen war. Seit gut einer Woche liegt die Schwester Amins im Krankenhaus. Die 17-Jährige sei „Opfer eines Giftgasangriffes“, meint er. Die Symptome wie Atemnot, Lähmungserscheinungen, Zuckungen stellten die Ärzte vor ein Rätsel. Blutproben, die sie nach Ägypten und Jordanien geschickt haben, sollen die Sache aufhellen.

Amin sieht kein Ende des Konfliktes und fürchtet, dass die Situation eher schlimmer als besser wird. Dass Ariel Scharon Verhandlungen an ein Ende der Gewalt knüpft, findet er absurd. Schließlich seien es doch die Israelis, die die Palästinenser unter fast permanentem Beschuss hielten. Ob der israelische Ministerpräsident Ehud Barak dann doch der bessere Mann war? Amin schüttelt den Kopf. „Ein Schuh ist wie der andere. Der eine ein rechter, der anderer ein linker – beide sind ein Paar.“