Riss in der Gesellschaft

Synthetische Welten und verletzte Zonen in der Gegenwart Chiles: Fotografien von DG. Reiß im Haus am Kleistpark

Auf seinen Fotos fehlen die Menschen. Ihre Abwesenheit macht den Verlust des Humanen schmerzlich spürbar, auch wenn die schönen Farben dazu im Kontrast stehen. Sie zeugen von Heiterkeit oder sanfter Melancholie, täuschen aber nicht über die Leere hinweg. So entsteht eine Poesie des Artifiziellen und Bühnenhaften, die die Dinge groß und mächtig werden lässt, starr und bedrohlich. Sie erscheinen meist in Unter- und Nahsicht, als habe sich der Aufnehmende in der Hocke befunden, oder als sei dies für ihn eine fremde Welt – mit Dimensionen, die einschüchtern.

Der Fotograf DG. Reiß, der an der Hochschule für Bildende Künste und in verschiedenen Fotoateliers in Hamburg studierte, hat die jetzt im Haus am Kleistpark gezeigten Bilder während mehrerer Aufenthalte in Chile 1997 bis 1999 aufgenommen. Sie stehen unter dem Titel „Testigos invisibles“ (Unsichtbare Zeugen) und teilen sich in zwei sehr unterschiedliche, doch ergänzende Werkreihen: „Synthetische Welten“ und „Verletzte Zonen“. Da ist das von Kapital und moderner Technik beherrschte Chile des Heute, mit seiner noch schwachen, aber mehr und mehr sich konsolidierenden Demokratrie; und dann das Chile des Gestern, von Diktatur und blutiger Repression, deren Schatten noch tief über dem Land liegen.

Das Chile der „Synthetischen Welten“ ist das einer austauschbaren Urbanität, die in vielen Metropolen des Globus vorzufinden ist und auch vor der Landschaft nicht Halt macht: Hochhäuser, Einkaufszentren, Reklametafeln und chromblitzende Verkehrsmittel. Sie werden von DG. Reiß als Details ins Bild gesetzt, die dynamische, fast abstrakte Kompositionen ergeben. Schnittiges Design aus Blech und Kunststoff, eingängige Werbebotschaften und spiegelnde Fassaden, einsames Telefonhäuschen am Meer und pressebespickter Kiosk – eine knallbunte Dingwelt unter dem weiten Blau des Firmaments.

„Verletzte Zonen“ richtet den Blick zurück, auf die noch immer meist ungesühnten Opfer des Pinochet-Regimes. Zu sehen sind Tatorte, unscheinbar und alltäglich: eine Mauer, von der der Putz abbröckelt, ein gusseisernes Kreuz, eine Haustür mit Scherengitter, ein paar aufgestapelte Steine oder ein Straßenpfeiler aus Beton. Es sind Orte, an denen Menschen erschossen, erschlagen oder zu Tode gequält, wo Leichen verstümmelt aufgefunden oder ans Ufer angespült wurden. Nur weniges erinnert daran: ein paar Blumen, ein eingeritztes Datum, ein Schild mit einem Namen. Der Platz der Kamera ist unten, dort wo die Opfer lagen. Wir sehen mit ihren Augen.

Zwei Welten stehen sich gegenüber: die glitzernde Fassade von Vergessen und vermeintlichem Fortschritt und die Mauer aus Bezeugen und Anklagen, Erinnern und Aufarbeiten. In der Ausstellung sind beide Werkreihen getrennt.

Nur den „Verletzten Zonen“ sind Texte zugeordnet, in denen die tödlichen Ereignisse am fotografierten Ort geschildert werden; die Opfer haben Namen und Beruf, die Täter sind anonyme Handlanger der Militärmaschinerie. Doch zwischen Text und Bild gibt es kaum Bezüge, sie fallen auseinander. Auch unterlässt DG. Reiß seine eigene Maxime, „Fotografie nicht als Abbild, sondern als Symbol“ zu nutzen. Eine direkte Konfrontation der Bilder hätte wohl besser den Riss durch die Gesellschaft gezeigt, als die gewählte Form der Separierung und Beschriftung mit manchmal allzu moralisch-klischeehaftem Unterton.

MICHAEL NUNGESSER

Bis 25. März, Di–So 12–18 Uhr, Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6/7, Schöneberg