Gemeinplätze statt Grenzüberschreitungen

Frei nach Big Brother: In seinem Thriller „Das Experiment“ schickt Oliver Hirschbiegel Moritz Bleibtreu in ein faschistoides Wissenschaftsgefängnis

Ist die Tragik abgeschafft, dann bleibt ja noch die Versuchsanordnung. Was zum Beispiel passiert, wenn man sechs Frauen und einen Mann oder sechs Männer und eine Frau oder zwanzig Männer isoliert? Es passiert das, was passieren soll, hier also: Wenn man oben hart genug drückt, kommt unten Erniedrigung heraus.

Ein Institut sucht stapazierfähige Probanden für einen soziologischen Versuch. Moritz Bleibtreu arbeitet zurzeit als Taxifahrer, riecht als Exjournalist aber eine gute Geschichte, wenn er sie riecht. Das Spiel heißt Gefängnis, und hart werden gleich die Rollen zwischen Videokameras, Aufsehern und Gefangenen verteilt. Und: „Sie werden zeitweise Ihre bürgerlichen Freiheitsrechte verlieren.“ Das wird zweimal gesagt, einmal zu viel.

Oliver Hirschbiegel will also ein scharfes Gesellschaftsmodell entwerfen, sein Film ist aber vor allem ein Kammerspiel. Dass räumliche Beschränkung ein Kick sein kann, hat Alfred Hitchcock oft betont. Von einem Kinodebüt würde man die volle Souveränität über die sich so ergebenden Zwänge allerdings gar nicht erwarten. Dennoch ergibt sich Hirschbiegel beflissen den Motivationen, Binnenverhältnissen und Folgerichtigkeiten vom Ein- bis zum Auschecken und hat außerdem für eine sozial abwechslungsreiche Gruppe gesorgt.

Neben dem Undercovermann gibt es den einsamen Kioskbesitzer, einen jovialen Elvis-Imitator, den zielstrebigen Manager, einen Mann mit Geheimnis und einen käsigen Flugbegleiter. Sie alle werden überwacht und gesteuert von stählernen WissenschaftlerInnen.

Der Aktualitätsbezug ist dem Film in jedem Fall sicher, denn Überschneidungen mit „Big Brother“ sind nicht zu leugnen, wenn sie auch zufällig sind. Es geht Oliver Hirschbiegel ja gerade nicht um die Kontrolle von Alltagsspaß und sexy, sondern um den zähen „Faschisten in uns“. Da es klar ist, dass die Situation faschistoid eskalieren wird, geht das Menschelnde ohnehin über das Nötigste nicht hinaus. Das Spiel schaukelt sich vielmehr hoch zwischen Regel und Regelverstoß; die „Wissenschaft“ stellt das Konzept, dessen volles Terrorpotenzial wird aber erst vom Medienvertreter herausgekitzelt.

„Das Experiment“ bildet eine Menge solcher Knoten, belässt es dann aber dabei. Er zieht sein Vergnügen vielmehr aus der krassen Thematik und wäre am liebsten eine neue Version von „Die 120 Tage von Sodom“ geworden, allerdings zeitlich verkürzt und ohne Sodom. In alldem ist noch gut die Klasse von 1981 zu erkennen, die einmal angetreten war, schlaffe Liberalismen mit harten, tabubesetzten Zeichen herauszufordern.

Und da steht man schon vor der nächsten Komplikation. Hirschbiegel wollte Grenzen überschreiten und Konzentrationslager spielen und das dann zur kritischen Masse der Demokratie erklären. Aber die Koketterie mit dem Autoritären zeigt vor allem auf einen scheinbar gegenläufigen Wunsch: nach Autorität, Regeln und Kontrolle. Bei so viel offener Ambivalenz ist es nicht erstaunlich, dass sich ein Empfinden von terroristischem Grauen dann doch nie wirklich einstellt.

Hart, aber nicht richtig hart, das ist eine Formel, mit der man hier zu Lande offene Türen einrennt. Auf eine quälende Weise verbindet sich das mit einem Darstellertyp, der im jüngeren deutschen Kino ohnehin bevorzugt wird: ein narzisstisch verkapseltes Wesen, das zwar Beflissenheit, gutes Aussehen, sportliches Ausdrucksethos und einen Hang zu Arabesken der Coolness mitbringt, über das Posertum aber nicht hinauskommt.

Da das Geschäftsmodell hier „Männerwelt“ heißt, ist an diesem Film nicht der experimentelle Faschismus interessant, sondern eigentlich nur die Rolle, die Frauen und Schwulen zugewiesen wird. Auf diesem Gebiet geht es tatsächlich einmal hart zu, denn „Das Experiment“ macht die Gemeinplätze von der konstruierten Frau bzw. Homosexualität noch einmal zum anachronistischen Ereignis.

Die weibliche Hauptfigur ist weich, pur, speziell und besitzt eine leicht geheimnisvolle Aura. Dora hat ein Paket zu tragen: Der Vater ist tot, da ist sie offen für Ersatz. Kaum aber ist sie eingeführt, wird sie auch schon zur Funktion. Als flauschiges Heiligenbild beschützt sie Bleibtreus Seele und ist sein Hoffnungsträger im Männerüberschuss. Es wird dieser Dora in Beziehungsdingen übrigens eine Hartnäckigkeit zugeschrieben, die geradezu lächerlich ist.

Noch etwas irrer als diese Frauen- ist die Schwulenrolle. Es ist fast so, als habe Hirschbiegel den ersten Film seit Jahren drehen wollen, der die Anforderungen von Vito Russos „The Celluloid Closet“ erfüllt. Berus scheint sich, trotz seines Klischeeberufs Flugbegleiter, über seine sexuellen Bedürfnisse nicht ganz klar zu sein. Mit fortschreitender Verschärfung blüht aber gerade dieser sonst zurückhaltende Mann erstaunlich auf. Eigentlich macht er nur, was er machen soll, und nutzt die Sicherheitslücken, die das Drehbuch bestehen lässt, entwickelt dabei aber ein teuflisches Geschick und kann auch den erotischen Seiten des Lagerlebens etwas abgewinnen. Das macht ihn dem Zuschauer nicht sympathischer; der kann so dem Fiesling ankreiden, was eigentlich fies ist an diesem Film.

Sich von Pasolini inspirieren zu lassen, hätte also mit Sicherheit auch anders aussehen können: Grobe Unterschiede zwischen Hetero- und Homosexualität zu machen, um das Entstehen von Faschismus zu erklären, gehören jedoch nicht zu dessen Lehren. Wer ein Faible für das Knallharte hat, sollte sich also vielleicht erst einen Überblick über die eigenen Motive verschaffen, bevor er zur großen Übertretung ansetzt.

MANFRED HERMES

„Das Experiment“. Regie: Oliver Hirschbiegel. Mit Moritz Bleibtreu, Andrea Sawatzki, Christian Berkel, Justus von Dohnány u. a. Deutschland 2000, 120 Min.