Der Retter und die Aspirantin

Fritz Kuhn hat wieder Lust auf grüne Politik gemacht. Claudia Roth muss gegen ihr eigenes Image kämpfen und sich auch als Parteimanagerin beweisen

Als Fritz Kuhn vor einem Jahr überlegte, ob er Parteivorsitzender der Grünen werden wollte, da stieg er auf einen Berg im Allgäu, um sich einen Überblick zu verschaffen: über die Lage seiner Partei, vor allem aber über seine eigene Situation. Sollte er wirklich Chef der Partei werden, die ihm gerade verwehrt hatte, im Landtag von Baden-Württemberg zu bleiben und gleichzeitig ihr Vorsitzender im Bund zu werden? Sollte er mit viel weniger Geld und seiner Familie nach Berlin ziehen, um sich dort noch mehr Arbeit aufzuhalsen? Kuhn fand nach einigem Nachdenken, dass er das sollte.

Wenn Fritz Kuhn heute, ein Jahr später, wieder auf einen Berg steigen wollte, dann hätte er ein Problem. In Berlin gibt es nichts, was auch nur im Entferntesten an ein Gebirge erinnert. Aber Kuhn braucht keinen Berg mehr, er kann seine Lage auch so ganz gut überschauen. Sie ist blendend. Fritz Kuhn wird von allen gelobt: vom Kanzler, von seiner Partei, von den Medien. Sogar seine Frau und seine beiden Söhne nehmen ihm nicht übel, ins Häuschen am Rande der Hauptstadt gezogen zu sein.

Der Schwabe gilt als einer der Retter der Grünen. Vor einem Jahr schien deren Mission beendet, deren Mythos verbraucht, deren Tod nur noch eine Frage der Zeit. Heute ist die Partei lebendig, alle reden über Ökologie, und die Grünen – das ist das Bemerkenswerteste angesichts ihres komplizierten Seelenlebens – mögen sich sogar wieder selbst. Fritz Kuhn hat es geschafft, Lust auf grüne Politik zu machen.

Zweifellos hätte es diese Renaissance ohne die BSE-Krise nicht gegeben – aber eben auch nicht ohne Fritz Kuhn und seine Ko-Vorsitzende Renate Künast, die beiden, die ein halbes Jahr lang das grüne Traumduo waren. Ihr Geheimnis war eigentlich keines, es bestand in etwas Selbstverständlichem: in professioneller Arbeit. Kuhn und Künast waren kompetent in der Sache, zupackend in ihrer Art und erfahren im Umgang mit den Medien. Nach erstaunlich kurzer Zeit wurde ihr Führungsanspruch in der Partei akzeptiert. Zum ersten Mal seit Jahren verströmte die Führung der Grünen Autorität. Eine wichtige Voraussetzung dafür war, dass beide Parteichefs wie ein Chef wirkten: Anhand ihrer Frisuren konnte man Kuhn und Künast nicht auseinander halten, und öffentlich widersprochen haben sie sich auch nicht. Ihre Meinungsverschiedenheiten trugen sie hinter verschlossenen Türen aus.

Fragt man Fritz Kuhn nach seinem Anteil am grünen Aufschwung, winkt er zunächst ab. Dann redet er von „Handlungsfähigkeit“, „Kommunikationsdisziplin“ und „Strategiebildung“. Über sich selbst spricht der 45-Jährige nicht so gern. In solchen Momenten wirkt Kuhn, sonst stets aufgeräumt und freundlich, fast ein bisschen schüchtern. Hinter den Wortungetümen steckt aber noch mehr als nur der Selbstschutz eines sensiblen Intellektuellen. Der Kommunikationswissenschaftler Kuhn ist ein Meister darin, seine Lust an der Macht zu verbergen. Manche nennen ihn einen Nebelwerfer.

Kuhn redet und redet und redet. Und er hört zu. Er spricht oft, mit vielen und zum richtigen Zeitpunkt. Für ihn sind Probleme dazu da, gelöst zu werden, und nicht, sie in der Öffentlichkeit breitzutreten. Gibt es Irritationen über den grünen Außenminister bei dessen USA-Besuch, greift Kuhn sofort zum Handy. Er telefoniert mit Joschka Fischer in Washington, mit Fraktionschef Rezzo Schlauch, mit Umweltminister Jürgen Trittin, mit den Fachleuten in der Bundestagsfraktion, mit den Chefs der Landesverbände, und schon spricht die Partei nur noch mit einer Stimme. Immer häufiger ist es die von Fritz Kuhn. Auf die hört sogar der Kanzler. Wenn es notwendig ist, spricht der grüne Parteichef mit Gerhard Schröder auch selbst. Einen direkten Draht zueinander haben die beiden.

Fritz Kuhn, früher in Baden-Württemberg ein ausgemachter Realo und ein autoritärer Fraktionschef, hat es geschafft, was bei den Grünen fast schon als unmöglich galt: die Parteiführung ist auf einmal das anerkannte Zentrum der Partei, nicht geschwächt durch die Flügel, sondern von ihnen anerkannt. Der Mann, der als Vertreter des grünen Gottes Joschka auf Erden galt, hat die Partei zusammengeführt.

So viel „Zentrismus“ fordert natürlich seinen Preis. Kuhn hat die Grünen nicht etwa neu erfunden, sondern konsolidiert. Er hat ihnen das Bewusstsein zurückgegeben, dass die Ökologie im Zentrum ihres Politikverständnisses stehen muss. Aber programmatisch geklärt hat er damit nichts. Und schon gar nicht hat er der Partei ihre tief sitzende Unsicherheit genommen, ob man beim Regieren vom Realismus allein leben kann.

Kuhn weiß das. Er versucht jedoch, sich mit Worten darüber hinwegzuhelfen. „Ich glaube an den Spruch von Fellini“, sagt er, „Visionäre sind die wahren Realisten.“ Der Parteichef übersieht in diesem Moment, dass er mit dem italienischen Filmemacher die Grünen von ihrem Dilemma gar nicht befreit. Im Gegenteil, er beschreibt in diesem einen Satz ihr ganzes Problem. JENS KÖNIG

Claudia Roth ist auf der Hut. Sie ahnt, dass manche Medien nur darauf warten, sie in eine Falle zu locken. „Doppelspitzen“, sagt sie, „sind für Journalisten eine wunderbare Konstellation.“ Die erste Pressekonferenz an der Seite von Fritz Kuhn wird eine Uraufführung sein. Streng werden die Kritiker sie beäugen. Wer sagt was, wie lange und zu welchem Thema? Welche Gesichter ziehen die Protagonisten? Theater zu spielen, das ist harte Arbeit. Das weiß Roth, das weiß auch Kuhn. Beide haben Anfang der 70er an der Bühne in Memmingen schließlich Regieassistenz gelernt.

„Der Fritz und ich, wir müssen uns vor der Neugier schützen, die auf uns fällt“, sagt Roth. „Fällt“, sagt Roth. Ein Wort, das ihr rausgerutscht ist, aber treffend die Last beschreibt, die in diesen Wochen auf die 45-Jährige drückt. Denn eines ist gewiss: Sie muss mindestens so gut sein wie Renate Künast. Die hatte mit Fritz Kuhn sechs Monate lang ein grünes Team abgegeben. Sechs Monate, in denen es keinen Streit gab. Mag sein, dass es auch nur an der Kürze der Zeit lag. Die beiden Spitzen der Union, Angela Merkel und Friedrich Merz, brauchten mehr als ein halbes Jahr, um festzustellen, dass sie nicht miteinander auskommen. Künast galt zwar als links, als sie zur Parteispitze aufrückte. Doch die damalige Berliner Fraktionschefin hatte bereits in der rot-grünen Verhandlungskommission 1998 ihre Flexibilität unter Beweis gestellt. Links, ja, aber dosiert, so hätte Künasts Motto lauten können. Claudia Roth hingegen gilt nicht nur als Linke, sondern als Politikerin, die Gefühle und Emotionen zulässt. Das ist eine Mischung, die manchen in der Partei nicht behagt. Ja, die sie fürchten. Und so musste Roth von Anbeginn mit dem Verdacht kämpfen, sie werde irgendwann Streit entfachen.

Mit Roth werde die „oft destruktive Logik der Strömungen in die Parteiführung zurückkehren“, hat der Parteienforscher Joachim Raschke kürzlich geschrieben. „Unsinn“ sei das, ärgert sich Roth. Raschke habe noch nie ein Wort mit ihr geredet, aber sein Urteil stehe schon fest. Dabei sei es doch ganz einfach: „Ich will Erfolg haben, der Fritz will es. Das sollte man endlich einmal zur Kenntnis nehmen.“ Unermüdlich haben beide in den letzten Wochen ihre gegenseitige Wertschätzung betont, mit ihrer gemeinsamen schwäbischen Herkunft kokettiert. Sollte es Streit geben, werde man diesen beim Wein austragen, erzählt Kuhn: „Unser Geheimnis ist unsere allgäuische Art.“

Vielleicht hat Kuhn Recht und jemand wie Raschke einfach nur Unrecht und die frühere Managerin der Rockband Ton Steine Scherben entpuppt sich als weitaus pragmatischer, als manche es wahrhaben wollen. Schließlich war es Roth, die mithalf, die rot-grünen Richtlinien zu den Waffenexporten zu formulieren. Das schuf ein gewisses Maß an Berechenbarkeit auf einem Gebiet, das die Grünen gerne für grundsätzlichen Streit nutzen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Roth sich nicht als Repräsentantin eines Flügels einordnen lassen will. Glaubwürdig solle sie bleiben, haben ihr Freunde geraten. Das sagt sich leicht, wenn man im Innersten weiß, dass man dabei den einen oder anderen zwangsläufig enttäuschen wird. Den Beschluss des Parteirates zu den Castor-Transporten hat Roth mitgetragen. Dabei hatten doch manche erwartet, sie würde gerade an dieser Stelle laut aufschreien, würde sich in das Bild des guten Gewissens der Partei fügen, das ihr zugeschrieben wird.

Stattdessen verteidigte Roth die Rücktransporte von Castoren aus Frankreich, vergaß aber auch nicht, das Recht auf zivilen Ungehorsam zu betonen. Das war eigentlich, was gemeinhin einer Parteispitze als Professionalität zuerkannt wird – nur ist es niemandem so recht aufgefallen. Darin liegt Roths größtes Problem: Je weniger sie die Erwartungen an Streit und Widerspruch erfüllt, umso größer ist die Gefahr, an der Seite Fritz Kuhns zu verblassen. Doch bleibt ihr keine andere Wahl. Zu mächtig wirken die Bilder des Duos Künast und Kuhn nach. Offenbar hat sich nicht nur Roth seinem gehörigen Maß an Selbstdisziplin unterworfen, das scheint auch für ihre Unterstützer in der Fraktion zu gelten. So, als wollte man dem Flügel um Rezzo Schlauch, Fritz Kuhn und Joschka Fischer beweisen, dass man kein Leichtgewicht ist, das bei erstbester Gelegenheit wieder in die alten Reflexe verfällt.

Als Außenminister Joschka Fischer kürzlich in Washington kein kritisches Wort zu den US-Angriffen auf den Irak wagte, hielt sich der Fraktionslinke Christian Ströbele zurück. Dabei hatte er einst mit Roth zur Gruppe der sieben grünen Abgeordneten gehört, die gegen den Nato-Einsatz im Kosovo waren. Ein neuer Frieden ist eingekehrt in die grüne Partei. Zumindest so lange, wie die Attacken der Union auf die 68er anhalten. Es habe sich in diesen Wochen „eine starke innere Identität herausgebildet“, sagt auch Roth. So wird, ganz nebenbei, auch die Union ihr Scherflein mit dazu beitragen, dass Claudia Roth heute in Stuttgart mit einem glorreichen Ergebnis gewählt wird.

SEVERIN WEILAND