Pfirsichpelz für Cézanne

■ Die Vorschau: Jan Schalm leidet unter multipler Persönlichkeitsspaltung und hat einen Kunst-Krimi verfasst. Den stellen seine neun Egos heute Abend vor

Beim Frankfurter Eichborn-Verlag durften schon viele vieles. Das „Kleine Arschloch“ durfte onanieren, Heiner Geißler sich seinen Kohl-Frust von der Seele quasseln, Robert Kurz den Kapitalismus demontieren und Heuschrecken in einem Kochbuch im Teigmantel braten: Ein ideales Umfeld für die wahnsinnigen Projekte des Heiner Boehncke, in dessen Schreibseminaren an der Uni vor vielen Jahren nicht zuletzt Ex-taz-bremen-Kulturredakteur Burkhard Straßmann seine Feder zu wetzen lernte.

1997 sorgte der Campus-Krimi „Bockenheimer Bouillabaisse“ für Aufsehen, der von 103 Frankfurter StudentInnen unter der Regie Boehnckes zusammengefrickelt wurde. Verkaufte Auflage: ungefähr 10.000. Das Buch gefiel auch Bernd Bexte, Professor für Illustration an der Bremer Hochschule für Künste. Besorgt um die Verbalisierungsfähigkeit seiner Cartoon-StudentInnen im Zeitalter von Zlatko holte er Boehncke für ein Gastsemester nach Bremen zurück. Und es ist sehr beachtlich, was dieser mit neun Nicht-LiteraturstudentInnen zustande gebracht hat. Da Boehncke einst in Aix-en-Provence studiert hat und schwerstens beeindruckt war vom Mont Sainte-Victoire, jenem Berg, den Cézanne mit wahrer Besessenheit bei allen Tages- und Nachtzeiten malte, schlug er als Thema irgendwas mit Bilderfälschung, Cézanne, Aix und Mord vor. Gemeinsam entwickelte man dann den Plot um den Scheeßeler Zahntechniker Paul Koopmann. Der fälscht Bilder, aber zum Leidwesen seines Galeristenfreundes nicht des Geldes wegen, sondern aus purer Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die so weit geht, dass er nach Aix fährt, seine Abschiedsbriefe im Stile Cézannes verfasst und seine Cézanne-Doubletten eifersüchtig vor den Blicken anderer geheim hält. Das Handwerk des Fälschens wird praktiziert mit der Besessenheit eines Künstlers: ein schöner Einfall, weil schließlich auch die neun AutorInnen von „Cézanne geht immer“ das Schreiben als Handwerk samt Regeln und Tricks erlernen – mit dem Endziel echter Literatur.

Der Plot wurde in neun Kapitel unterteilt und die wurden jeweils von einem oder zwei AutorInnen ausformuliert. Dann ging's zurück ins Plenum. Satz für Satz wurde durchgesprochen. Dabei schnellten Arme hoch und wenn ein Verbesserungsvorschlag die Mehrheit fand, wurde verändert, ganz gnadenlos. „Das war nicht unkompliziert, da jeder Autor ein Narziss ist, den es natürlich schmerzt, wenn seine wahnsinnig schönen Sätze plötzlich umgeschmissen werden“, erzählt Boehncke. Aber durch diese Kollektiv-Überarbeitung entstand eben ein relativ geschlossener Stil.

Der unbedingte Wille zur Expression und zum anschaulichen Bild riecht, leuchtet, schmeckt aus jedem Satz – und manchmal rotzt er auch. Wenn Paul niest, dann ist das ein komplizierter Vorgang. „Seine Schleimhäute zogen sich zusammen“ und erst einen Absatz später hält er das redlich verdiente Kleenex an seinen Rotzrüssel. Und gammligem Obst zu Ehren werden wahre lyrische Feuerwerke entfacht: „Bleiweiße Schimmelhügelchen saßen wie trockene Noppen wohlverteilt auf dem Pfirsichpelz.“ Man bemerke dieses wohlplatzierte „wohlverteilt“. Da es in den 80 Seiten um Bilder und noch dazu um impressionistische Bilder geht, ist dieser Hang zum optischen Overdressing eigentlich sogar sehr passend. Und so einige literarische Finten sind wohl auch mit dezentem Augenzwinkern zu verstehen. Etwa das pathetische Wiederaufgreifen des Eingangssatzes am Schluss: „Leuchtendes Blau.“ Wunderschön geschmäcklerisch ist zum Beispiel die detaillierte Beschreibung der Reiseroute eines Insekts, die auf dem Blut einer Leiche endet. Die Identität dieser Leiche wird auch am Schluss nicht gelüftet, wie es unter Avantgardisten guter Ton ist. Tja, die Welt ist eben geheimnisvoll – übrigens auch auf den tollen Illustrationen, wo Tapetenmuster vogelwild zusammencollagiert (oben) sind mit historischen Fotos und Radierungen. Alles in allem ein überzeugendes Argument für Creative-writing-Kurse, auch wenn manche Literaturwissenschaftler die Nase rümpfen.

Im Krimi wurden übrigens jede Menge Bremensien verstaut: der Cage-Raum der Kunsthalle, ein event-lüsterner Kunsthallenchef, die Villa Ichon. Was die Lesung nur noch lustiger machen wird ... bk

... heute 20 Uhr, Stadtbibliothek Vor dem Steintor 37

Jan Schalm: „Cézanne geht immer“, 24 Mark 80