fleischbällchen und die sorgen des mittelalters
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von KARL WEGMANN

Bob Dylan haut uns die Nashville Skyline um die Ohren; das ist in Ordnung, altvertrautes Territorium. Wir quatschen über das Giant-Sand-Konzert von letzten Donnerstag. Vorherrschende Meinung: ging so! Nur Hermann fand’s total klasse: „Diese alten Säcke haben nicht kapiert, dass sie für jede Flasche und für jedes Glas eine Mark Pfand bezahlen mussten. Die haben das Leergut einfach irgendwo abgestellt. Ich hab’s eingesammelt und den ganzen Abend Corona für lau gesoffen.“ „Corona“, sagt Willy, der die ganze Zeit schon irgendwie deprimiert wirkt, „Corona gab’s früher auch nicht. Warum zum Teufel trinkst du mexikanisches Bier, deutsches ist besser und billiger.“ – „Na, nu mach aber mal halblang“, meint Hermann, „ich wollte dem Konzert doch nur einen würdigen Rahmen verpassen. Wüstenrock und so.“

„Ich bin alt“, seufzt Willy. „Ach Quatsch“, lacht Konscho und zieht ein paar neue Flaschen aus dem Kasten, „du bis nicht alt – höchstens mittelalt.“ Kronkorken werden weggesprengt. „Doch, doch“, jammert Willy wieder, „ich bin alt. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als unsere einzige Sorge war, dass sie den Preis für ein kleines Pils und für einen Liter Sprit auf eine Mark hochsetzen könnten und wir auf jeden Fall vorher die Revolution durchziehen müssten.“ An dem Gedanken knabbern wir alle eine zeitlang herum. Dann macht Willy weiter: „Ich meine, schaut euch doch die Welt an. Letzte Woche zum Beispiel wollte ich mal wieder Fleischbällchen machen. Jeder Mensch weiß, dass in italienische Fleischbällchen drei Sorten Fleisch gehören, nämlich Schwein, Lamm und Rind. Ich also los, einkaufen. Schöne Tomaten, frisches Basilikum, Zwiebeln, Knoblauch, Spaghetti Nr. 5 und Lamm- und Schweinehack. Als ich Hackfleisch vom Rind verlange, sagt die Veräuferin: ‚Haben wir zurzeit nicht da, Sie wissen schon, BSE und so, Rindfleisch ist gerade ein bisschen gefährlich.‘ Gefährlich!“, Willy echauffiert sich richtig, „ich meine, seit ein paar Jahren werden wir gezwungen dauernd an den Tod zu denken, vergiftete Luft, vergiftetes Wasser. Autofahren heißt töten. Sonnenbaden gleich Hautkrebs gleich Tod.

Bumsen? Saugefährlich! Wir haben Aids; Sex gleich Tod. Und jetzt sind wir schon bei den Fleischbällchen! Friss und stirb! Ich bin alt.“ Alle sind irritiert und schweigen. Nur Bob Dylan trällert „Tell me that it isn’t true“, aber keiner kann ihm helfen.

Bier lindert den Schock und löst die Zungen wieder. Doch nach einer halben Stunde merken wir, dass wir in einer „Früher-war-alles-besser“-Situation stecken, und Willy triumphiert: „Seht ihr, wir sind alt!“ Wir schwenken schnell um und diskutieren, ob wir 44 Mark für das Jazzmatazz-Konzert am Monatsende ausgeben sollen. Aber das hilft uns auch nicht weiter, denn Konscho weist darauf hin, dass wir von Horden Baseballkappen umgeben sein werden und wir die ältesten ... Dann rettet Hermann den Abend. Er legt Willy die Hand auf die Schulter grinst und sagt: „Komm schon, alles halb so schlimm, denn wie sagte schon der Dinosaurier zu seinen Kumpels: Wir werden’s überleben!“