ERST WURDE JAPAN GRANDIOS ÜBERSCHÄTZT – UND JETZT UNTERSCHÄTZT
: Im Globalisierungsstress

Japan-Pessimisten sind momentan gefragt! Jede Schockgeschichte aus dem Land der aufgehenden Sonne, wo die Börse auf historischen Tiefständen notiert und ein unbeholfener Premier durch die Fettnäpfchen stolpert, wird freudig gedruckt. Hauptsache, sie beschreibt, dass die ehemaligen Exportweltmeister und Erfinder der weltweit kopierten Qualitätskontrolle nun nicht wissen, wie mit Arbeitslosigkeit oder der Globalisierung umzugehen ist. Diese Berichte unterschätzen Japan genauso, wie das Land vor zehn Jahren am Zenit der Seifenblasenwirtschaft überschätzt wurde.

Japan befindet sich zweifellos in einer Krise. Es ist sogar die tiefste Krise seit mehr als 120 Jahren, und sie ist schmerzlicher als die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das zerbombte Land nach dem sinnlosen faschistischen Kriegsabenteuer mit dem Aufbau beginnen musste. Die heutige Krise ist schmerzlicher, weil sich viele Japaner erst noch mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass es nur wieder aufwärts geht, wenn lieb gewordene Strukturen zerstört werden. Die Angst vor dem Verlust ist groß und offenbart zugleich die Widersprüche in dieser als harmoniebedürftig geschilderten Gesellschaft.

Die Tragik des Landes liegt derzeit darin, dass die alte Garde der Liberal-Demokratischen Partei (LDP), die Japan in den vergangenen 45 Jahren mit einer Ausnahme von 10 Monaten ununterbrochen regiert hat, den Wandel nicht vollziehen will. Eines der deutlichsten Zeichen dafür ist die jüngste Weigerung des unbeliebten Premiers Yoshiro Mori, seinen Sitz möglichst rasch zu räumen, um wenigstens die politische Pattsituation in Tokio aufzubrechen. Zu hoffen wäre, dass die Wähler beim nächsten Urnengang die verknöcherte LDP endlich aus der Regierung jagen und der Opposition, die sich zunehmend geeinigter präsentiert, eine Chance für den Neuanfang geben.

Unter der Oberfläche verändert sich Japan nämlich bereits; und dieser Wandel kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Restrukturierung in Kernindustrien geht ohne große Reibungsverluste voran. Ja, die Arbeitslosenzahl steigt, auch die der Obdachlosen; und selbst die Kriminalität nimmt zu. Diese Zahlen lassen sich aber immer noch nicht mit jenen der europäischen Länder vergleichen.

Japan befindet sich in einem langen Tunnel und schreitet gerade durch den letzten und dunkelsten Abschnitt. Wer das Land jetzt unterschätzt, wird es in zwei, drei Jahren wieder als Gefahr für die westlichen Handelspartner überschätzen. Fairness ist darum gerade jetzt angesagt! ANDRÉ KUNZ