Ein Römer fährt nordwärts

„Wir stehen auf verlorenem Posten“, fürchtet ein Gewerkschafter in Como. „Unsere einzige Hoffnung heißt Rutelli“

aus der Lombardei MICHAEL BRAUN

Etwas ratlos wandern die Blicke der wenigen Aufrechten den Bahnsteig hinunter. Da steht er nun im grauen Nieselregen Comos, der Zug Rutellis, doch vom Kandidaten keine Spur. Die Abteile sind dunkel und verwaist, die Türen versperrt, der ganze Zug durch eine Postenkette der Polizei abgeriegelt. Also wieder zurück ins Bahnhofsgebäude, in dessen trister, leerer Weite die wohl 150 Rutelli-Anhänger nur deshalb auffallen, weil sie sich in einer Ecke der langen, hohen Halle zusammendrängen. „Kräftemessen mit der Rechten?“ Der Funktionär der Linksdemokraten schüttelt den Kopf. „Welches Kräftemessen? In Como gibt's nur Rechte. Wir stehen hier auf verlorenem Posten.“ Das sei schon immer so gewesen, setzt ein Gewerkschafter vom linken Bund CGIL nach. „Und am 13. Mai verlieren wir womöglich auch noch das letzte Abgeordnetenmandat, das die Regierungskoalition in Como hält. Unsere einzige Hoffnung ist jetzt Rutelli.“

„Wir halten durch“

Am 13. Mai wählt Italien; und seit Monaten liegt Silvio Berlusconis Rechtsopposition in den Meinungsumfragen weit vorn. Das Rennen wäre eigentlich gelaufen – wenn da nicht Francesco Rutelli wäre, der Spitzenkandidat des bisher regierenden Mitte-links-Bündnisses. Markantes Kinn, blaugraue Augen, charmant und telegen: Das immer wieder mit Clinton oder Blair verglichene Kommunikationstalent Rutelli soll die Wende bringen. Seit dem 10. Februar tourt er im Wahlkampfsonderzug durchs ganze Land, klappert von Belluno im Friaul bis zum sizilianischen Agrigent eine Provinzstadt nach der anderen ab. Die letzten Etappen seines einmonatigen Giro d'Italia führen den Kandidaten wieder in den hohen Norden; von Como durch die Lombardei. „Die Rechte holt hier 70 Prozent, aber wir halten durch!“ Das mit dem Durchhalten wiederholt der CGIL-Gewerkschafter noch vier Mal. Sein Blick ist genauso trüb wie das Wetter in Como.

Mit seinem massigen Schädel, mit der Schiebermütze und dem üppig sprießenden Schnurrbart könnte er bei einer Neuverfilmung sofort den Peppone geben, doch ihm fehlt Peppones Optimismus. Nein, es sei nicht bloß so, dass die frühere christdemokratische Mehrheit der Wähler zu Berlusconis Forza Italia und zur rechtspopulistischen Lega Nord Umberto Bossis umgeschwenkt sei. „Unsere eigenen Leute sind uns auch noch abhanden gekommen. Wir haben mittlerweile jede Menge CGIL-Mitglieder, die rechts stimmen. Meine eigene Schwester wählte früher immer kommunistisch – und jetzt ist sie für die Lega Nord.“

Como, das ist tiefste Lombardei, das ist der Speckgürtel Mailands, wo der Arbeitsfleiß zusammengefunden hat mit dem Misstrauen gegen alles, was nach Gemeinwesen riecht, nach Politik, nach Staat und Steuern. „Wer zahlt eigentlich für diesen Rutelli-Zug? Mal wieder der Bürger, der ewige Esel“, erhitzt sich der einzige Lega-Nord-Anhänger, der sich an diesem Morgen outet. Es gehört hier zum guten Ton, Berlusconi zu bewundern, den lombardischen Selfmademan, der aus dem Nichts Milliarden zusammengescheffelt hat. Der Römer und ewige Berufspolitiker Rutelli ist das genaue Gegenstück – selbst für seine eigenen Leute. Sein Auftritt verzögert sich Minute um Minute, und plötzlich erinnern sogar die Kommentare seiner Anhänger an Lega Nord oder Berlusconi. „Unsere Jungs stehen morgens um fünf auf, um arbeiten zu gehen – aber der Rutelli schafft es nicht, um zehn hier zu sein“, brummelt ein älterer Herr. „Wetten, dass der gar nicht mit dem Zug fährt? Der lässt sich bestimmt mit dem Dienstwagen durchs Land chauffieren.“

Plötzlich stürmt der Kandidat herein. Nach Kräften strahlend, den Arm hochgereckt, begrüßt er sein Publikum – die Mehrheit davon ist im Rentenalter – mit einem spitzen „Wow!“ – und wirkt trotzdem ungekünstelt. Rutelli weiß, dass er in Como ein Auswärtsspiel absolvieren muss; er weiß aber auch, dass vor ihm bloß der eigene schmale Fanblock versammelt ist. Also verneigt er sich kurz vor der lombardischen Schaffensfreude, um sich dann sofort der Truppenbetreuung zuzuwenden. Nein, die Wahlen seien keineswegs verloren, nein, er glaube an den Sieg, gemeinsam könne man es schaffen. Er versichert dies so treuherzig und überzeugt, als glaube er wirklich an seine Parolen. Das kann Rutelli mindestens so gut wie Berlusconi: Mal lässig plaudernd wie der Conférencier vom Varieté, mal eindringlich beschwörend wie ein amerikanischer Baptistenprediger, leistet er Arbeit an den Seelen der Gefolgsleute. Mit Erfolg: Als er in den Zug steigt, verabschieden ihn die Anhänger mit „Francesco, Francesco!“-Sprechchören.

„Ich bin keine Fotomontage“

Die nächste Station, der gleiche Auftrag: Monza. Katholisch, klerikal, bigott seien die meisten Wähler hier, giftet die ältere Dame, die tapfer die hellgrüne Fahne der Ulivo-Koalition schwenkt, des Olivenbaum-Bündnisses der Mitte-links-Parteien. Dicht drängen sich die Ulivo-Anhänger auf dem Bahnsteig, quäkend ertönt Rutellis Stimme aus dem Bahnhofslautsprecher. Schließlich steigt der Kandidat auf einen alten klapprigen Stuhl – und macht ebendiesen Stuhl gleich zum Argument, liefert enthusiastisch gefeierte Variationen zum Thema Wahlkampf minimal. Die Rechten haben zig Millionen, damit können sie sich sündteure Kampagnen leisten, den Bürgern mit Plastikwelten aus der Werberetorte auf die Pelle rücken, „ich dagegen bin ein Kandidat aus Fleisch und Blut, keine Fotomontage wie Berlusconi, und ich bin auch kein milliardenschwerer Padrone, sondern bloß der Kapitän in unserer Mannschaft“. Die Rundreise durch Italien im Wahlkampf-Sonderzug diene ihm vor allem dazu, ganz bescheiden den mitfahrenden Bürgern des Landes zuzuhören, statt demagogische Versprechen hinauszuposaunen.

Als die Reise weitergeht, Richtung Osten, ist zum Zuhören leider keine Zeit. Durchschnittsbürger sind trotz gegenteiliger Behauptungen des Zugprospekts gleich gar nicht zur Fahrt zugelassen, und auch die extra einbestellten Provinzpolitiker an Bord warten vergeblich darauf, zur Audienz vorgelassen zu werden. Etwas ungehalten sitzen die Bürgermeister im Speisewagen beim Espresso und schimpfen auf Rutelli, der sich in seinem Waggon verbarrikadiert hat, um in Dauertelefonaten Koalitionskräche beizulegen.

Doch kaum steht der Zug in Bergamo, da gelingt Rutelli wieder binnen Minuten die Verwandlung in den Kandidaten zum Anfassen. Auch Bergamo ist Niemandsland für die Mitte-links-Parteien; umso gerührter sind die örtlichen Aktivisten angesichts des brechend vollen Kinosaals, der Rutelli erwartet. „So viele waren wir seit Jahren nicht mehr“, stammelt einer am Eingang, mit Tränen in den Augen. Wieder liefert Rutelli die perfekte Show, die Stimme kräftig und ruhig, während seine Blicke von einem Gesicht zum anderen wandern, so als spreche er hier mit jedem ganz persönlich. Kein Blatt, keinen Spickzettel hält er in der Hand, aber es gibt auch keine Wahlkampf-Standardrede. Zunächst erheitert er das Publikum mit der Anekdote vom wackligen Stuhl, auf dem er grade in Monza stand. Dann gibt es eine satte Portion Siegeszuversicht wie zuvor in Como, und schließlich lobt Rutelli sich sowie seine Koalition für die Fähigkeit, Berlusconi mit dessen Waffen zu schlagen. Hat nicht die Regierung gerade das Gesetz zur Verschärfung von Strafen für Kleinkriminelle durchgebracht? Hat die Koalition nicht soeben den föderalen Umbau Italiens in Angriff genommen und damit den reichen, rechten Regionen des Landes ein wichtiges Zugeständnis gemacht? Zwanzig Minuten Reden vom Tatendurst – ganz wie sein Gegner Berlusconi, der auch gerne aufs eigene unternehmerische Werk verweist –, dann ab nach Brescia, der nächsten und letzten Zugstation des Tages.

Müde Siegesschwüre

Endlich steht dort ein leibhaftiger Bürgermeister zum Empfang bereit: In Brescia regiert Mitte-Links die Stadt. Hoffnungsfroh ist die Stimmung trotzdem nicht. Schließlich verdankt sich der Erfolg allein der Tatsache, dass Berlusconis Rechtsblock und die Lega Nord hier bisher getrennt marschierten. Zusammen sind sie für 60 Prozent gut – und damit für alle Direktmandate Brescias. Müde verzieht die junge Frau mit der roten Fahne der Linksdemokraten auf den Schultern das Gesicht, als Rutelli vor dem Bahnhof zum „Wir werden siegen!“ anhebt. Ihre Begleiterin lächelt resigniert.

Doch Rutelli lässt sich von der schlechten Stimmung nicht beeindrucken. Wieder ist das angemietete Kino zum Bersten gefüllt. Nicht die aufgedonnerten reifen Damen im protzigen Pelz, nicht die smarten Jungmanager der Forza-Italia-Kundgebungen sind hier zu sehen, stattdessen Angestellte in nüchternem Chic, Jugendliche mit Rasta-Locken, ärmlich gekleidete Rentner. Da will auch Rutelli nicht mehr bloß als linkes Abziehbild Berlusconis durchgehen; mit einem Mal redet er viel von Solidarität, von sozialem Engagement und vom Schutz der Zukurzgekommenen. Die Botschaft kommt bei allen an – außer bei ihm selbst. Am Ende wirken seine Siegesschwüre wie ein müdes Ritual. Der Kandidat hat es eilig: Auf ihn wartet ein Abendessen im roten Mantua. Dort sind nicht bloß Minderheiten mit klassisch linken Themen zu begeistern.