Heinz Rudolf Kunze denkt

Neue Musikproduktionen zur Frage: Warum hat sich Guy Debord erschossen?

Gerade was künstlerische Produktion betrifft, ist Denken allein völlig für’n Arsch

Denken tut jeder Mensch. Das ist eben so, das ist wie Atmen, auch der letzte Depp tut’s. Deshalb ist es nicht ganz so gut gemeint, wenn wir sagen, dass sich da jemand schon was dabei gedacht hat. Oder mit Guy Debord gesprochen: „Natürlich kann man unter Umständen einen Film daraus machen.“

Gerade was künstlerische Produktion betrifft, ist Denken allein völlig für’n Arsch. Was Aufmerksamkeit verdient, ist allein Denken mit Drive. Nehmen wir den toten Dichter Rilke. In unserer Talkshow-verseuchten Zeit sind seine Werke in Vergessenheit geraten. Das ist nicht in Ordnung. Dann bringen wir eben die Scheibe „Die schönsten Gedichte von Rainer Maria Rilke gelesen von Bruno Ganz“ heraus, denkt sich der letzte Depp. In Deutschland immer noch kein Einzelfall. Mein Gott – man nennt die Scheibe „Rilke Projekt“, spielt „einfühlsame“ Musik dazu und lässt singen und sprechen: Mario Adorf, Ben Becker, Montserrat Caballé, Hannelore Elsner, Christa Fast, Nina Hagen, Peter Maffay, Rudolph Moshammer, Xavier Naidoo, Christiane Paul, Otto Sander und Friedrich von Thun. Fertig. Da ist es doch etwas übertrieben, wenn man das „die einzigartige Idee des Komponistenduos Schönherz & Fleer“ nennt: Drive ist nicht Overdrive. So viel Maßstab muss auch in den Werbeabteilungen von RCAVictor, BMG und Müller sein.

Ein ähnliches Projekt erscheint Ende April bei der deutschen WEA-Dependance. Man muss nicht in die Hamburger Schule gegangen sein, um zu erkennen, dass das Denken dort etwas mehr Drive hat. Hinter dem Titel „Urban Renewal“ steckt eine Scheibe, die „die Hits des groovigsten aller Songwriter im R&B-Kleid zeigt“: Phil Collins, Ex-Genesis-Drummer. Gecovered und geremixed von Brand & Ray J, Ol’Dirty Bastard, Deborah Cox, Dane Bowers feat. Kelis, Lil’ Kim feat. Phil Collins, Joe, Changing Faces, Coko, Kelis, Debelah Morgan, Montell Jordan, TQ, Brian McKnight und Malik Pendleton. Ein Beispiel dafür, dass die Grenze von Drive zu Overdrive nicht immer klar ist. Wer jetzt noch Zweifel hat, wird einsam bleiben, denn selbst Sean „Puffy“ Combs und Ice-T sind öffentlich eingefleischte Phil-Fans. Warum sie nicht drauf sind? Mit Guy Debord gesagt: „Ich antworte nur in Anwesenheit meines Anwalts.“

„Wenn ich dieses Album höre, ist es fast so, als könne ich wieder aufrecht gehen“, erzählte Phil Götz Bühler, „denn nicht alle von den Künstlern können völlig falsch liegen.“ Ohne Drive geht’s nicht, ohne Geduld selten: Drei Jahre dauerte es von Idee bis Scheibe, erzählt mir ein glücklicher WEA-Boss Bernd Dopp bei der Presse-Party in München, die er mit der Bemerkung startete, der Musikstandort Deutschland werde nun hoffentlich ernster genommen. Off the records, unter vier Augen, erzählt er auch von für ihn persönlich schwierigen Nebenwirkungen. Schon kommt von kaum weniger populären WEA-Künstlern die Frage, ob man’s mit ihnen nicht auch mal so machen könnte.

Dies Problem hat sein Schützling Heinz Rudolf Kunze nicht. Dafür dieses: „Ich habe den Fluch, mit einem Chef gesegnet zu sein, der sich immer wieder als Fan von mir bezeichnet hat.“ Aber dennoch mit kritischer Distanz dafür sorgte, dass die neue Scheibe nicht „Jesus Tomahawk“, sondern „Halt“ heißt und statt fünfzehn nur dreizehn Tracks enthält. Der Overdrive ist klar, für vier Tracks wurde Carol von Rautenkranz „aus dem Umfeld von Blumfeld und den Sternen“ an die Regler gesetzt.

Warum aber war ausgerechnet der „Denker mit Drive“, so der Titel der Musikexpress-Story von Karl Günter Rammoser, der sich „bei allem Bemühen um intelligente Texte das Herz eines Rock ’n’ Rollers bewahrt hat“ und „der Lyriker unter den deutschen Rockmusikern“ ist, nicht beim „Rilke Projekt“ dabei? Vielleicht weil er ein Fan des französischen Situationisten Guy Debord ist, der ihn sogar „angeregt“ habe zu „Halt“: „Dieser Mann hat eine so fundamentale Kritik an allem Bestehenden geschrieben, dass man es kaum aushalten kann. Er hat noch deutlicher als Adorno gesagt, dass alles, an das wir uns gewöhnt haben, falsch ist und dass es, wie Adorno so wunderbar zugespitzt gesagt hat, kein richtiges Leben im falschen gibt.“ Warum aber liest „der Mann mit den implantierten Qualitätskriterien“ Debord? „Er hat sich an meinem Geburtstag erschossen. Deswegen habe ich ihn besonders ins Herz geschlossen. Ich hätte ihn wahrscheinlich nie gelesen, wenn ich nicht erfahren hätte, dass er sich an ausgerechnet diesem Tag das Lebenslicht ausgeblasen hat.“ Damit haben wir endlich die beste Antwort auf die Frage, warum sich Guy Debord erschossen hat.

FRANZ DOBLER