Abschied von der Heldensaga

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

„Erst die Kursk und jetzt die Mir“, steht auf dem Transparent in dem Moskauer Kino, das nach der russischen Weltraumstation Mir benannt ist, die in wenigen Tagen im Stillen Ozean versinken soll. Leer, planmäßig und überwacht, im Unterschied zum Atom-U-Boot Kursk, das im Sommer im Nordmeer mit der gesamten Besatzung sank.

Anhänger des Rechtsradikalen Alexander Barkaschow und Skinheads haben sich in dem Großraumkino zu einer Mahn- und Trauerfeier versammelt. In ihren Augen stellt die Entsorgung der Mir nach dem Verrat an der DDR, dem Warschauer Pakt und der Kursk einen weiteren Verrat des Kreml dar. Kurzum, Verzichtspolitik, meint ein Glatzkopf. „Wer den Kosmos beherrscht“, glaubt er,“ regiert die Welt.“ Das will man nicht kampflos den Amerikanern überlassen. Im Hintergrund intoniert die Kultband „Krematorium“ das selbstzerstörerische Eindringen des kosmischen Wohnmoduls in die Atmosphäre. Gruselig.

Nicht nur Rechtsradikale beklagen den verordneten Exitus des ehemaligen Prestigeobjektes. Auch Studenten des Moskauer Luftfahrtinstituts gingen auf die Straße. Ihr Traum sei es gewesen, eines Tages an und mit der Mir zu arbeiten. Nun verlangen sie im Rückgriff auf eine sowjetische Propagandaformel den Erhalt der Station: „Miru Mir“:„Frieden für die Welt“ oder „der Welt die Mir“. Ein Wortspiel: Mir bedeutet Welt wie Frieden.

Niemand schenkte ihnen Gehör. Auch die Rettungsinitiative der Kommunisten scheiterte. Einige ihrer Dumaabgeordneten sind hochdekorierte Kosmonauten. Sie baten Präsident Putin um einen Vollstreckungsaufschub. „Wir – das ist die Mir“. Vergebens. Auf dem Konto eines Rettungsfonds gingen nur zwanzigtausend Dollar ein, Betriebskosten, die die Mir in zwanzig Minuten verbraucht.

Flucht ins All

Daraus indes den Schluss zu ziehen, die Russen stünden dem Schicksal der Mir gleichgültig gegenüber, wäre falsch. Es gibt wohl keine Generation, die seit den 50er-Jahren nicht vom kosmischen Fieber ergriffen worden wäre. Im Wettlauf mit den USA lag die UdSSR bis Anfang der 60er-Jahre vorn. 1957 jagte sie den ersten Sputnik ins All, und 1961 folgte der erste Mensch, der legendäre Juri Gagarin. Ein Ereignis, das so enthusiastisch gefeiert wurde wie der Sieg im Zweiten Weltkrieg. Endlich war nach Krieg, Armut, Gulag und Stalins Repressionen etwas gelungen, das die Härte des Alltags ein wenig vergessen ließ.

Die Jugend griff nach den Sternen. Es war auch eine Fluchtbewegung. Die Zukunft lag im All, nicht auf dem Boden des stagnierenden Kommunismus. Die Trostlosigkeit der Städte entpuppte sich als provisorische Durchgangsstation, von der aus man bald in die lichte Zukunft aufbrechen würde. Der Kosmos war allgegenwärtig. In Metrostationen, Lehrbüchern, an Wänden, auf Spielplätzen. Überall grüßte das freundlich ernste Konterfei eines „Heldenkosmonauten“.

Wer damals nicht den Wunsch hatte, den Himmel zu stürmen, mit dem konnte etwas nicht stimmen. Alle sangen: „Auf den staubigen Straßen ferner Planeten lassen wir unsere Spuren zurück“. Das Lied wurde zur offiziellen Hymne der Raumfahrt.

Gagarin war der Prototyp des Helden jener Zeit. Männerrunden bedachten den fernen Kosmonauten bei jedem Glas mit einen symbolischen Tropfen. Über Nacht hatte er den Volkshelden der 50er-Jahre, Iwan Rudskoi, verdrängt. Der war ein Traktorist, der mit einem tausende zählenden Heer von namenlosen Treckerhelden das Land eroberte, das er eigentlich urbar machen sollte. Profan im Vergleich zu Gagarins Aufgabe. Juri verkörperte Fortschritt und Überlegenheitsanspruch des kommunistischen Regimes.

Gott ist tot. Der Held lebt

Und er nahm seine Aufgabe ernst. Zurückgekehrt aus dem All gab er die wesentlichste Erkenntnis preis: Die Existenz eines Schöpfers – oder gar mehrerer Götter – könne er nach seinem himmlischen Erkundungsflug nicht bestätigen. Es gebe keine. Tausende Christen ließen sich zum Atheismus bekehren. Die Kommunistische Partei trat eine neue antireligiöse Kampagne los, angeführt vom Himmelsstürmer Gagarin.

Der sowjetische (oder auch russische) Held ist nie nur ein einfacher Held, der sich durch eine Tat oder besondere Eigenschaft hervorhebt. Nein. Ein Spitzensportler muss sich gleichzeitig noch in Mikrobiologie habilitieren und ein verdienter Schlosser exzellent das Violoncello beherrschen. Revolutionär Lenin schrieb in Zürich nicht nur „Materialismus und Empiriokritizismus“ neben hunderten anderen Artikeln, er absolvierte, so will es die Legende, täglich auch noch ein Laufprogramm von siebzig Kilometern durch die Berge.

Wir haben es beim russischen Helden mit einem komplizierten Entwurf zu tun, der ihn in die Lage versetzt, innere Widersprüche zu vereinen und spielend auszuhalten. Er muss ein Massenwesen sein und gleichsam über der Masse stehen. Er darf kein Gott sein, hat aber Gott zu gleichen. Also holt man die Götter vom Himmel und schickt Helden hoch. Ergebnis: eine Missgeburt. Bei Gagarin störte sein Name, der auf aristokratische Herkunft verwies. Proletarische Raumfahrt? Die Ideologie deichselte das: ein Beweis des besonders demokratischen Charakters der UdSSR. Bei Co-Kosmonaut German (Hermann) Titow erregte der unrussische Vorname Verdacht. Auch kein Problem. Angebliche enzyklopädische Kenntnisse des Helden in der russischen Literatur reichten aus, um ihn einzubürgern.

Hinter der Raumfahrt stand nicht nur der Drang, das All technisch zu erobern. Es ging um mehr – wie meist in Russland. Vorlagen lieferte der okkulte Philosoph Ziolkowski, der in der UdSSR als theoretischer Vater der Raumfahrt gefeiert wurde.

Das Universum retten

Seine Ideen bestanden aus einem Schuss Vitalismus, Monadologie, ein Quentchen Theosophie, ein bisschen Buddhismus und Panpsychismus. Vision und Ziel: die Verwandlung des Menschen und der Gesellschaft durch den Auszug in den Kosmos. Dort sollten sich die Atome des Menschen zu einem neuen, vollkommeneren und harmonischeren Wesen vereinigen. Kurzum: Statt wie bisher nur die Menschheit durch den russischen Messianismus zu beglücken, galt es nun, das ganze Universum zu retten.

Bevor es so weit war, trat indes Ernüchterung ein. Der Kalte Kriegs-Gegner USA landete 1968 auf dem Mond. Vor den Schülern hielt man das geheim. Die UdSSR änderte ihre Stoßrichtung. Statt Mondlandung lautete nun die Direktive, durch einen Aufenthaltsrekord im All Überlegenheit zu demonstrieren.

Das brauchte seine Zeit. 1986 gelang es. Die USA traf der Mir-Start in einem empfindlichen Moment. Die Sowjets katapultierten den 21 Tonnen schweren Basisblock drei Wochen nach der Explosion der US Raumfähre Challenger, die sieben Astronauten das Leben kostete, in die Umlaufbahn.

Das Ende der Mir markiert den Abschluss der Pionierzeit in der Raumfahrt und für Millionen Russen den endgültigen Abschied von der Kindheit. Nicht verglühen dürften indes russisches Sendungsbewusstsein und All-Mensch-Erretterphantasien.

Eine radikal andere Sichtweise auf den Absturz der MIR bietet interessierten taz-LeserInnen heute die „Wahrheit“. Bitte blättern Sie weiter.