Wenn sich die Schwachen einigen

... überwinden sie die Buben, Asse und Trümpfe des Starken: Skat ist ein Gleichnis

aus Halle THOMAS GERLACH

Alte Liebe rostet nicht. Kann schon sein. Aber wenn das ND, das Neue Deutschland, nicht mal mehr eine Anzeige schaltet, um für das eigene Skatturnier zu werben? Und das beim 25., dem Jubiläumspreisskat? Hans Stollberg steht im renovierten Saal, Hände mal in der Hosentasche, mal am Westover, und schaut um sich. „Wo bleiben die bloß?“ Durch die große Brille blickt er zur Tür. Sollen das etwa schon alle Mitspieler sein?

Im Haus der Volkssolidarität in Halle-Trotha wurde die DDR vor sechs Jahren mit Raufaser, Farbe und Fördermittel ausgetrieben: ein aufgemöbelter Salon, mintfarbene Stores, Aquarelle, Polsterstühle, helle Lampen und nebenan die Küche mit Edelstahlhaut – blitzeblank und alles fit fürs 21. Jahrhundert. Hans und seine Leute kommen aus dem alten Jahrhundert und wollen Skat spielen am Freitagabend. Und der Hans schaut auf die vielen Tische und die wenigen Spieler. Muss das sein? Zum Feiern ist dem Hans noch nicht. Da kommen Journalisten aus Berlin und dann nur 24 Spieler! Und die eigene Zeitung schweigt. Und der Genosse Schneidewind ist immer noch nicht da. Der hat doch den Computer und die Preise!

Na ja, alles keine Schicksalsschläge, Hans Stollberg hat Schlimmeres erlebt. Die Wende – natürlich. „Als das alles am Zusammenbrechen war.“ Als die Post plötzlich nicht mehr das SED-Zentralorgan zustellte, hat er mit seiner Frau persönlich das Neue Deutschland ausgetragen. Bis seine Frau stürzte. Da hat der Genosse Schneidewind den Vertrieb übernommen, richtig als Firma. „Wo bleibt der denn bloß?“ Schon fünf Uhr durch. Die Namen eintragen, den Einsatz kassieren, die Auslosung – alles stockt.

Jede Punktzahl wird notiert

„Hans, fang doch schon mal an und schreib uns ins Buch ein. Das kann der doch später in den Computer übernehmen!“, ruft einer. Das Buch. Eigentlich hat es ausgedient. Hans blickt um sich. Schöne Scheiße! Journalisten hier und dann das. Soll er? Soll er nicht? Das Preisskat-Kontrollbuch WBA 260 ist ein besonderes Buch des Lebens: Jeder Teilnehmer, jeder Sieger, jede Punktzahl ist auf kariertem DIN-A4-Papier notiert. Hans Stollberg hat es am 27. Januar 1985 eröffnet. Damals hieß das Turnier noch Preisskat der Nationalen Front im Wohnbezirksausschuss 260 in Halle-Südstadt. Hans Stollberg hat immer den Stift geführt, und damit das auch jeder sieht, hat sich der Genosse Stollberg stets die Startnummer 1 gegeben. Wer die Arbeit hat, hat auch die Ehre! Das Kontrollbuch überlebte die DDR, die SED, die Nationale Front, die Währungsunion. Den Computer hat es nicht überlebt.

Rüdiger Schneidewind stürmt herein, Laptop und Drucker unterm Arm; Stecker rein und Klappe auf. Rüdiger sitzt, Hans steht, dahinter eine Menschentraube. Alle blinzeln in das Leuchtfenster, sehen ihre Namen auf- und niedertanzen, nur der Hans bleibt immer oben. Sie zücken ihre Portmonees, Zehnmarkscheine fallen in den Suppenteller; Auslosung und an die Tische!

Halt! „Bevor ihr anfangt: Würstchenbestellung: Finger hoch!“ Barbara Saupe, Herrin der Edelstahlküche, erfüllt ein Versprechen: Für das leibliche Wohl wird wie immer gesorgt, heißt es in der Einladung. Stoppelschnitt, rot getönt, und Schminke um die Augen – zwischen den vielen Rentnern wirkt sie wie ein Sternchen, das mit den Augen sprüht, mit dem Mund Musik macht, den Schnaps eingießt, die Würstchen wärmt und die Herzen auch. Selbst wenn sie bloß das Weißbrot toastet. Vielleicht kommen manche nur ihretwegen. Barbara Saupes Vitamine heißen Optimismus und Lebensfreude, die Bockwürste hat sie damit geimpft. „Na, mein Schniepser, willste noch ’n Bier?“ Im Topf werden die Würstchen prall, an den Tischen wird es still, Hans Stollberg vergisst das ND und was ihn eben noch grämte. Er versinkt in den Skat, die anderen auch.

Ein Starker, zwei Schwache

Ein schönes Spiel und ein Gleichnis dazu: Ein Starker, zwei Schwache, und der Starke gewinnt. Oft. Doch nicht immer. Wenn die Schwachen sich einig sind und das Glück ihnen hold ist, überwinden sie den Starken und dessen Armee aus Buben, Assen und Trümpfen. Sozialismus in den Farben der Spielkarten. Eine gemütliche Achterbahnfahrt, mal oben, mal unten – eine Zweidrittelgesellschaft wie draußen im Land. Nur – hier gibt es alle paar Minuten einen neuen Anfang, hier schwimmt jeder mal oben. In den unendlichen Weiten der 32 Karten haben Hans Stollberg und die anderen längst vergessen, was sie in der real existierenden Welt nicht mehr ändern können. Die Niederlage des Sozialismus, das Ende der DDR und das Schweigen des ND, die eigene Gebrechlichkeit und die Gebrechen der Gesellschaft.

Entspannung im Spiel, Anspannung am Computer. Rüdiger Schneidewind darf nicht spielen, und es macht ihn mürbe. Jeans, Jeansweste und ein kräftiger Scheitel – Schneidewind ist bestimmt der Jüngste hier, doch jetzt sieht er alt aus. Einer muss der Realität ins Auge sehen. Schneidewind rechnet und zirkelt, zählt zuerst das Geld, dann die Preise, stellt Einnahmen gegen Ausgaben, nimmt Präsente vom Tisch. Die vier ND-Kugelschreiber wandern wieder in die Kiste, die Täve-Schur-Biografie auch. Das Duschgel bleibt, Gläser und Likör auch, die Kaffeemaschine sowieso und die winzige rote Socke auch. Und die drei Hauptpreise bleiben unverändert. Noch. Aber wie lange können sie sich 75, 50 und 25 Mark leisten? Bei einem Einsatz von 10 Mark und etwas mehr als zwanzig Spielern?

Im Saal krachen Fingerknöchel auf Tische, am Computer klimpert Geld. Rüdiger Schneidewind hat Münzen aus einer Dose gekramt und ausgelegt: 4 Mark und 87 Pfennig, das heutige Defizit, ausgeglichen aus der Sparbüchse. Auch ein Gleichnis: Ökonomisch fährt der Große ND-Preisskat längst auf Reserve. Wie einst die DDR. „Ich hab schon überlegt, die Hauptpreise zu kürzen.“ Rüdiger Schneidewind hat seine marktwirtschaftliche Lektion gelernt, schließlich besitzt er einen kleinen Verlag und hatte vorher einen Zeitungsvertrieb. Startgeld erhöhen? Preise verringern? Werbung verbessern? „Wir haben das vor sechs Jahren gegründet, um was fürs ND zu tun“, sagt Schneidewind. Jetzt könnte das ND etwas für den Preisskat tun. Aber selbst die Kugelschreiber muss er abrechnen, 2,50 Mark das Stück. Die Lücke zwischen Soll und Haben hat schon den Arbeiter-und-Bauern-Staat ruiniert. „Es gibt einfach zu viele Skatturniere.“ Kommt bald die Wende über das Große Turnier?

Hier die Sorgen, dort die Wurst, dazwischen Hans Stollberg und Genossen. Nun ja, nicht alle sind in der Partei. Liselotte Finneisen ist zwar älter als die KPD, aber doch eine Bürgerliche: wache Augen, feine Hände und ein Knoten im Haar, Skatspielerin seit 1923. Als die Inflation am höchsten war und ihr Vater, ein Taxiunternehmer, wenig zu tun hatte, brachte er seiner neunjährigen Tochter das Kartenspiel bei. Und die kann es noch heute: ruhige Hand, Pokerface und wache Augen. Regungslos bedient sie die Farben, regungslos sticht sie. Sie redet nicht, sie spielt. Hans Stollberg ist auch so einer, doch er spielt verbissen und brummt von Zeit zu Zeit. „Die Liselotte ist unsere beste Spielerin“, sagt Manfred mit dem runden Bauch, er strahlt. Sie merke sich noch jeden Stich. Manfred war früher technischer Direktor der Teebude, der pharmazeutischen Werke in Halle. Er könnte Liselottes Sohn sein. Liselotte Finneisen hört das Lob, lächelt und schweigt. Und hält sich die Karten wie einen Fächer vors Gesicht. Neulich beim Weihnachtspreisskat hat sie die Gans gewonnen.

Unruhe! Skatmeister Eberhard, der beste Skatspieler von Sachsen-Anhalt, poltert am Tisch zwei. Golden glänzt das Abzeichen des Meisters an der Lederweste. Umsonst. „Den Grand hab ich in den Sand gesetzt!“ Eine Pechsträhne. Zur Halbzeit hat Eberhard noch geführt, doch der Architekt hat eine Ahnung. Einer von den 23 anderen sitzt ihm im Nacken. Aber wer? Liselotte? Manfred? Oder der Hans? Wieder und wieder nippt er am Bierseidel, mehr, als ihm gut tut. Alles umsonst. Aber er weiß es noch nicht. Bei Genosse Schneidewind treffen die Endergebnisse ein. Schneidewind überlegt. Hat er einen Plan? „Ich hatte doch den ND-Vertrieb in Halle, da hab ich übrigens auch die taz ausgetragen. Na, waren ja nicht mehr als hundert in Halle.“ Rüdiger Schneidewind hat die Lösung vor Augen. „Eure Leute von der taz – wenn’s nur hundert sind –, die wären hier herzlich willkommen! Eure Leser sind doch auch im jungen und mittleren Alter?“ „Ich geb dir mal die nächsten Termine.“

Ein Präsent bleibt liegen

Ganz nebenbei hat Rüdiger Schneidewind die Rettung formuliert. Der erste Große Preisskat im neuen Jahrtausend wird nicht der letzte sein. Der Rest ist Chronistenpflicht: Genosse Hans Stollberg, langjähriger Chef der Kreisparteischule Halle, gewinnt und genießt den Triumph. Er hat den Landesmeister bezwungen: 75 Mark. Zum ersten Mal steht der Hans nicht nur zu Beginn ganz oben. Schade, dass das Kontrollbuch WBA 260 schon in Rente ist. Manfred von der Teebude wird Fünfter und greift sich den Likör. Liselotte Finneisen hat sich noch auf den siebten Platz vorgekämpft und nimmt das Skatspiel im Lederetui mit nach Hause. Ob erster oder letzter Platz – einen Preis bekommen sie alle. Zuckererbsen für jedermann – das ist Sozialismus. Nur ein Präsent bleibt liegen: Die rote Socke stopft Schneidewind wieder in eine Schachtel hinein. Jetzt aber rein in die Küche, der Hans gibt einen aus: Bier und Korn für alle, die noch da sind! Und die Barbara, dass ihr es wisst, die trinkt Jägermeister! Übrigens: Der nächste Große ND-Preisskat findet am 15. Juni statt. Für das leibliche Wohl wird wie immer gesorgt.