Ans Lehrdeputat gekettet

Schüler ändern sich ständig. Pädagogen aber begreifen sich immer noch als Be-Lehrer

Die Abteilung des großen Betriebes ist allen bekannt, und sie hat ihre ganz eigenen Gesetze: Die meisten der Angestellten haben ihren Kollegen noch nie bei der Arbeit zugesehen. Die Methodik ihres Jobs bestimmen sie weitgehend selbst. Wird ein Abteilungstreffen einberufen, reagieren die Kollegen mit Unwillen. Die Sitzungen bestehen aus Belanglosigkeiten, Monologen und Ränkespielen. Nach der Arbeit verlassen die meisten fluchtartig den Betrieb. Weil der Job derart unbefriedigend ist, hält es kaum einer bis zur Pensionsgrenze durch. So weit, so schlecht.

Der Vergleich mag hinken, aber die hier beschriebene Abteilung könnte ein Lehrerkollegium sein, der große Betrieb die Schule. Seit mehr als 100 Jahren haben sich Kinder und ihre Lebensbedingungen grundlegend gewandelt. Die Arbeit von LehrerInnen ist nahezu gleich geblieben. Der Job des Pädagogen, so die Vorstellung nicht nur beim staunenden Publikum, ist immer noch durch zweierlei gekennzeichnet: durch Belehrung und Einzelkämpfertum. Andere Tätigkeiten als die vor der Klasse sind für die Schule inzwischen enorm wichtig geworden. Bei den LehrerInnen ist das aber noch kaum angekommen. Sie sehen zum Beispiel die Weiterentwicklung der jeweiligen Schule nicht als ihre originäre Aufgabe an. Oder empfinden Supervision immer noch als Eingeständnis einer persönlich-pädagogischen Niederlage und nicht etwa als Bestandteil von Professionalität.

Lehrerarbeit hat, wenn man es genau betrachtet, sehr viel mit ihrer zeitlichen Bestimmung zu tun. LehrerInnen sind in Deutschland hoch belastet. „Burn-out“ lautet das Stichwort dazu. Wissenschaftliche Studien bestätigen das: Die PädagogInnen an Deutschlands Schulen arbeiten mehr als vergleichbare Angestellte des öffentlichen Dienstes. Die steigende Arbeitsbelastung liegt dabei sicherlich auch an den zu großen Klassen. Das reicht aber als Erklärung nicht aus. Die Überlast entsteht auch durch das eindimensionale Verständnis des Lehrdeputats.

Die Zeitstruktur des Lehrerjobs ist immer gleich

Das so genannte Unterrichtsdeputat unterscheidet sich zwar je nach Schulart, Schulstufe und Bundesland geringfügig. Aber es konzentriert sich nach wie vor aufs Belehren. Alle anderen Tätigkeiten wie etwa die Unterrichtsvorbereitung, das Korrigieren, die Elternarbeit, die Fortbildung oder die Kooperation sind verschämt in das Deputat mit eingerechnet. Das Deputat ist starr. Wer zwei Korrekturfächer oder eine sozial schwierige Klasse hat, muss mit demselben Zeitkontingent zurechtkommen wie weniger belastete KollegInnen. Die Konzentration aufs Deputat ist also schuld daran, dass die Zeitstruktur der Lehrerarbeit quasi unverändert geblieben ist.

Dabei trotzt das belehrungsfixierte Deputat tapfer den Erkenntnissen der schulpädagogischen Forschung. Die weiß seit 20 Jahren, dass nicht mehr allein der einzelne Lehrer als Be-Lehrer für die Qualität von Unterricht und Erziehung wichtig ist. Die Kultur jeder einzelnen Schule ist mitentscheidend dafür. Die ganze Schule erzieht. Mit ihren Normen und Werten, mit ihren inhaltlichen Schwerpunkten, mit der Art, wie Lehrende und Lernende vor Ort miteinander umgehen. Das bedeutet umgekehrt, dass die Kollegen sich lösen müssten vom einzelkämpferischen Belehren. Und die Kollegien lernen sollten, sich kontinuierlich auszutauschen: darüber, was, warum und wie gelernt werden soll, was die Schüler des jeweiligen Ortes brauchen, wo die eigene Schule in fünf Jahren konzeptionell stehen soll. Stattdessen regieren in den Kollegien Kooperationsfeindlichkeit und das Prinzip der Nichteinmischung – Gift für eine gute Schule.

Das Paradoxe an der bisherigen Definition von Lehrerarbeit: Die Konzentration auf das Unterrichtsdeputat ist offenbar nicht nur für die LehrerInnen bestimmend. Auch die Arbeitgeber, die Länder, sind aufs Deputat fixiert: Während die Pädagogen sich so auf das Unterrichten als Hauptarbeitszeit beschränken können, schätzen die Finanzminister die Deputate als leicht veränderbare Größe. Mit dem Verweis auf die „faulen“ Lehrer, die „vormittags Recht und nachmittags frei“ haben, wird das Deputat munter herauf- und heruntergesetzt – ganz wie es die Kassenlage gebietet. Mit Erfolg: Aus keiner Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte um die Arbeitszeit von Lehrern sind deren Verbände als Sieger hervorgegangen.

Welche Auswege gibt es? Ein Blick ins Ausland, etwa nach Dänemark oder die Niederlande, zeigt: Man kann mit einer festen Jahresarbeitszeit besser fahren. Weil sie alle Tätigkeiten von LehrerInnen berücksichtigt – auch jene, die bisher nicht erfasst sind. Das ermöglicht es, feste Zeitkontingente für Kooperation, Fortbildung, Schulentwicklung oder auch Korrekturen zu veranschlagen – und schafft zudem Transparenz für die Öffentlichkeit und die KollegInnen.

Schulreformen sind nur mit LehrerInnen umzusetzen. Das ist ein Allgemeinplatz. Insofern ist die beginnende Einstellungswelle der Bundesländer notwendig. Aber sie allein reicht nicht. Weil ein Plus an LehrerInnen nur das Symptom kuriert, die Ursache des Problems Deputat aber unangetastet lässt. Es braucht zuallererst eine Neubestimmung der Lehrerarbeit und ihrer Arbeitszeit. Auch wenn es wehtut. Das würde denjenigen nutzen, für die Schule veranstaltet wird: den SchülerInnen. MARC BÖHMANN

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