Wie viel Gladbeck gab es auf Jolo?

Journalisten diskutieren mögliche Lehren aus dem Verhalten von Reportern während der Geiselkrise in Indonesien

Sollte bei Geiselnahmen wie der auf dem philippinischen Jolo der Platz von Reportern in der ersten Reihe sein? Oder haben die Journalisten dort nichts zu suchen, weil sie selbst Teil des Geschehens werden könnten? Laut Spiegel-Korrespondent Andreas Lorenz, der letzten Juni bei der Berichterstattung auf Jolo selbst gekidnappt wurde, sollten Journalisten möglichst nah an das Geschehen. Hingegen hatte bei Lorenz’ Geiselnahme Siegfried Weischenberg, der Vorsitzende des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV), das Verhalten der Reporter kritisiert und sie zur Zurückhaltung aufgefordet. Journalisten gehörten nicht in die erste Reihe, so Weischenberg damals.

Wieweit Journalisten in Krisengebieten gehen dürfen, diskutierten Lorenz und Meischenberg am Dienstagabend auf einer Veranstaltung von Reporter ohne Grenzen in Hamburg. Der DJV-Vorsitzende erinnerte an den Pressekodex, der nach der Geiselnahme von Gladbeck 1988 verschärft worden sei und zum Beispiel Interviews mit Tätern sanktioniere. Damals hatten Live-Interviews mit den Entführern das Eingreifen der Polizei verhindert. Lorenz erkannte an, dass die Polizei nicht behindert und das Leben der Geiseln nicht gefährdet werden dürfe. Doch der Kodex sei auf Jolo nicht einfach übertragbar. „Jolo ist nicht Gladbeck,“ so Lorenz. Interviews mit den Rebellen hätten geholfen, sich von ihnen ein Bild zu machen. Denn Entführer, Polizisten und Politiker seien dort nicht immer klar zu unterscheiden: „Wir mussten denen auf die Finger schauen.“

Für Lorenz war die Berichterstattung direkt von vor Ort wichtig, um den Standpunkt der Geiseln zu vermitteln und damit sie nicht vergessen wurden. „Eine vergessene Geiseln ist eine tote Geisel“, so Lorenz. Berichte aus der sicheren Stadt Zamboanga oder der Aufkauf des Materials philippinischer Kollegen seien keine Alternativen gewesen. Weischenberg räumte ein, aus der Ferne keine konkreten Alternativen benennen zu können. Er blieb aber bei seiner Kritik der Zahlungen der Journalisten an die Entführer und sprach von „neuem Scheckbuchjournalismus“. Laut Lorenz hätten die Journalisten die Lösegeldpreise nicht hochgetrieben. Sein Kollege Olaf Ihlau, der Lorenz freikaufte, sagte. „Es ging doch um Menschenleben.“ Beim Spiegel sah man Weischenbergs Kritik während der Entführung als unsolidarisch. Lorenz seinerseits mochte auch heute noch nicht die französischen Kollegen kritisieren, die nach seiner Entführung auf dem Weg ins Geiselcamp gekidnappt wurden. „In Frankreich gibt es die Diskussion nicht, die wir hier führen“, so Lorenz. SVEN HANSEN