Die Stadt, der Müll und das Atom

„Fruchtbare Gegend, fruchtbare Zeit“: Bis 1990 produzierte das Kernkraftwerk Rheinsberg Strom für die DDR. Der Rückbau des Werks steht bevor – und damit ein Castor-Transport ins Zwischenlager bei Greifswald. Wie sah das Leben mit dem Atom im Osten aus? Ein Chor der Ingenieure und Maschinisten

Sie geht zur Schicht, sie geht zur Schicht, sie geht zur Schicht – und wir noch nicht

von ANNETT GRÖSCHNER

Am Montagmorgen, 6 Uhr 30, wird der Castor-Transport von La Hague aus nach Gorleben starten. Unter guter Bewachung durch 15.000 Polizisten. Der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Dienstes der Polizei in Niedersachsen, Eckhard Gremmler, hat den Sicherheitsaufwand gegenüber den zu erwartenden Demonstranten hochgerechnet: „Bei noch 168 Castoren aus Frankreich und England ins Zwischenlager Gorleben und zwei bis drei Transporten von jeweils sechs Behältern pro Jahr – sind wir in etwa zehn Jahren damit fertig“ (s. taz, 17. 3.)

Demnächst könnte auch noch ein Transport im Osten stattfinden: Wenn der Bund für Strahlenschutz seine Zustimmung gibt, sollen zunächst vier Castoren aus dem zum Rückbau bestimmten Kernkraftwerk Rheinsberg in das Zwischenlager Nord bei Greifswald rollen, wo das dortige KKW ebenfalls abgerissen wird. Als Zeitraum ist der 7. bis 13. Mai angepeilt. Weil es auch bei diesem Castor-Transport zu Demonstrationen kommen könnte, werden etwa 5.000 Sicherheitskräfte schon seit Anfang des Jahres auf die Transportbegleitung vorbereitet. Und der brandenburgische Vorsitzende der Grünen erklärte in der dortigen Polizeizeitung schon mal vorsorglich: Es werde zu keinen Blockaden kommen – stattdessen soll der Transport selbst dazu dienen, über die Gefahren der Atomenergie aufzuklären.

Das KKW bei Rheinsberg war von 1969 bis 1990 in Betrieb und lieferte 130.000 Stunden lang Strom, wobei es zu 484 Störungen kam, von denen fünf „sicherheitsrelevant“ waren. Im Kraftwerk arbeiteten einmal 650 Menschen. Die jetzt noch etwa 200 Beschäftigten für den Rückbau haben ABM-ähnliche Arbeitsverträge. Auch die Schriftstellerin Annett Gröschner hat sich – unter dem Arbeitstitel „Erinnerung an eine strahlende Zukunft“ – beizeiten auf die Rheinsberger Castor-Transporte vorbereitet, die sie demnächst aufklärerisch mit einer Art Abgebrannte-Brennstäbe-Biografie begleiten wird. Dazu war sie von Januar bis Juni 1999 schon mal als Stadtschreiberin vor Ort – und durchforstete die Archive. Außerdem sprach sie mit Mitarbeitern des Kernkraftwerks. Die „Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte“ veröffentlichte anschließend einen Zwischenbericht von ihr – als „Rheinsberger Bogen Nr. 9“, dem die folgenden fragmentarischen KKW-Geschichten entnommen wurden:

Aus dem Landeshauptarchiv: 1956 wurde in einem Regierungsabkommen zwischen der DDR und der UdSSR der „Kontrakt 903“ beschlossen – über die Lieferung eines AKW vom gleichen Typ, wie er zeitgleich auch in Nowo-Woronesch gebaut werden sollte, wobei die UdSSR die Funktion des Generalprojektanten übernahm.

Die Schreibende Arbeiterin: Ein Auto rollt nach Norden. Sinnend blickt der Mann hinaus. Ein gewichtiger Auftrag führt ihn seinem Ziel entgegen, das Rheinsberg heißt.

Die Traktorenlyrikerin: Atom wird Helfer, und du siehst das Morgen,/ den hohen, hellen Schornstein, der nicht raucht./ Du wirst von deinem Zauber nichts verlieren,/ nützt du dem kühnen Kraftwerk, das dich braucht.

Deutscher Kulturbund, Ortsgruppe Neuruppin: Und das erste Atomkraftwerk unserer Republik, das am Stechlinsee entsteht, wird den Zustrom der Erholungssuchenden kaum verringern, sondern eher vergrößern – noch dazu die Wassertemperatur des kühlen Stechlin, wie Fachleute versichern, um etwa zwei Grad Celsius steigen wird.

Reaktor-Ingenieur: Na ja, ein Grad haben wir geschafft.

Die Chefsekretärin: Zuerst waren wir in ehemaligen Bauarbeiterunterkünften. Da war eine olle Lok, und mit der wurde die Baracke beheizt.

Der Physiklehrer: Eine Attraktion war, zu Silvester zum Kernkraftwerk zu laufen und im 18 Grad warmen Wasser des Auslaufkanals zu baden.

Aus dem Landeshauptarchiv: Die Übernahme der frischen Brennstoffkassetten aus Russland im KKW . . . erfolgt im Beisein von Spezialisten . . . Es werden Stichproben vorgenommen. Für den Transport wurde keine Haftpflichtversicherung abgeschlossen.

Der junge Ingenieur: Eine E-Lok verbrauchte zu DDR-Zeiten einen Anfahrstrom von 7 MM. Zehn Stück auf einmal angefahren – und das KKW Rheinsberg war an seiner Kapazitätsgrenze.

Aus dem Landeshauptarchiv: Z. Zt. ist es unter den spezifischen Bedingungen des Betriebes einer Kernenergieanlage noch nicht möglich, aus der Größe und Tragedauer der Kontamination exakt auf die Strahlenbelastung des Personals zu schließen.

Die Konstrukteurin: Alle waren in so einer Aufbruchphase. Atomkraft war etwas ganz Neues! Die haben alle gesagt, schafft euch vorher noch schnell ein Kind an. Hinterher seid ihr nicht mehr zeugungsfähig. Aber wir haben alle viele Kinder gekriegt . . . Das war eine fruchtbare Gegend, eine fruchtbare Zeit.

Der junge Ingenieur: Damals waren die Spannungsschwankungen recht hoch im Netz, und dann hatte man zu Hause neben dem Fernseher so einen Trafo stehen, um die Spannung wieder von einer niederen zu einer höheren hochzutransformieren. Manchmal waren die Spannungsschwankungen so groß, dass das Bild anfing zu flackern. Und das war für meinen Vater, wenn er Bereitschaft hatte, das Zeichen, zum Krisenstab zu fahren, weil das KKW mal wieder vom Netz gegangen war.

Die Konstrukteurin: Die russischen Spezialisten haben alle in einem Häuserblock am Wald gewohnt, und wenn die ihre russischen Filme sehen wollten, haben sie eine große Leinwand im Wald aufgebaut. Und dann haben die Familien alle bis nachts aus dem Fenster rausgelehnt mit ihren Sofakissen und den Film angekuckt. Das musste natürlich entsprechend laut aufgedreht werden, so dass die ganze Umgebung, ob sie wollte oder nicht, bis in den Morgen diese Russenfilme mit anhören musste.

Der Maschinist: Unter uns wohnte der sowjetische Chefkonstrukteur des Reaktors, genau so ein junger Bursche wie wir.

Die Konstrukteurin: Die sowjetischen Frauen haben sehr viel genäht. Und da haben sie sich immer rollenweise von uns Transparentpapier mitgenommen, weil sie daraus Schnittmusterbogen gemacht haben. Und wir haben dann immer gesagt, das könnt ihr doch nicht machen, wir haben hier selber nicht so viel. Ach, haben die uns dann geantwortet, ihr seid geizig, wir bauen euch so ein großes Werk, und ihr gebt uns kein Papier. Und wir haben alle darauf geantwortet, das hätten wir auch alleine hingekriegt, wenn wir gedurft hätten.

Der Maschinist: Manchmal gab es Sonderverkäufe nur für Kernkraftwerker im Kulturhaus. Einmal waren Piroschka-Stiefel angekündigt, solche roten, mit hohen Absätzen . . . Wir waren jung und schnell und zuerst an den Pappkartons. Nachher konnte man in der Stadt sehen, welche Frau Beziehungen zum Kernkraftwerk hatte.

Der Reaktor-Ingenieur: In den Kneipen haben sich die Eisenbahner mit den Bauarbeitern des KKW um die Rheinsberger Mädchen gekloppt, und im Ort hieß es, schließt eure Mädchen weg.

Der Rheinsberger Carnevalsclub (singt): Sie geht zur Schicht, sie geht zur Schicht, sie geht zur Schicht – und wir noch nicht.

Der Reaktor-Operator: Zur Zeit des Tschernobyl-Unglücks war ich in der Slowakei in einem Kernkraftwerk. Die hatten da auch eine Überwachungsanlage . . . Wenn die Betriebsangehörigen das Kraftwerk verließen, wurde angezeigt, ob sie kontaminiert waren. Und an dem Tag war es genau umgekehrt. Da sind die Leute, die von außen ins Kernkraftwerk gekommen sind, signalisiert worden.

Der Reaktor-Ingenieur: Damals hat man hier gesagt, na gut, wenn wir keinen leistungsstärkeren Reaktor kriegen, dann nehmen wir den halt – und wusste noch nicht, dass man gerade mit diesem Reaktortyp eine goldene Uhr gezogen hatte.

Die Konstrukteurin: Man hatte ja so viele Probleme in der Wende, meine Mann keine Arbeit, am Boden zerstört. Er hat in der Forschung gearbeitet und 1984 seinen Doktor gemacht. Er ist noch mit dem Pferd vom Bahnhof durch die Stadt geritten worden, als er seinen Titel bekam, das war sehr schön, und nun ist er Hilfskraft bei mir im Buchladen.

Der Bürgermeister von Rheinsberg: Heute sage ich, wenn man gegen Kernkraft ist, dann muss man auch für den Abbau sein, und nun wird das abgebaut, und nun gibt es von den Atomkraftgegnern auch dagegen wieder Proteste . . . Ich bin dafür, dass das konsequent wieder grüne Wiese wird, hoffentlich halten sie das durch, alle zusammen.