Fucking Friesland

Eine Landschaft mit Schafen und Kühen, immer nur Kühen und Schafen. Unendliche Weiten. Selbst über die Städte heißt es: „In Aurich ist es traurich, in Leer noch viel mehr.“ Fest steht: Wer in Ostfriesland aufwächst, hat es nicht leicht

von JAN BRANDT

Das Jugendzentrum des Dorfes ist eine Sackgasse mit Wendemöglichkeit. Ein paar Metallstangen liegen herum, Holzplanken, Rampen, ein verrosteter Zaun. Dahinter verläuft die Eisenbahnlinie Leer–Papenburg. Nach der Schule treffen sich hier die Skater, bei der „Molke“, wie sie sagen.

„Raiffeisen-Molkerei Ihr ve“ steht an dem Gebäude, zwei Buchstaben fehlen, einige Scheiben sind kaputt. Nicht gerade ein einladender Ort. „Wo soll man denn sonst hingehen?“, sagt Sade. „Hier ist ja nichts los.“ Sade sitzt mit ihren Freunden auf einer Holzplanke. Sie rauchen. Als das Thema Schule aufkommt, sagt jemand: „Ey, is Nachmittag.“

Freizeit in Ihrhove, einem kleinen ostfriesischen Dorf an der Ems, keine fünfzig Kilometer von der Nordsee entfernt. Umgeben von Feldern und Wiesen, trägen Kühen und Schafen, ein Feriengebiet mit Radwanderwegen und Baggerseen mit Angelzone. Ihrhove hat 3.500 Einwohner, eine Videothek, eine Disko und sechs Supermärkte. Drei davon stehen inzwischen leer. Der Bahnhof wurde vor zwanzig Jahren geschlossen. Am Wochenende gibt es einen Nachtbus. Für manche die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Das ist ein Scheißkaff“, sagt Sade, „voll assich.“ Sade ist vierzehn, eigentlich heißt sie Sade-Chantal, aber alle nennen sie einfach Sade, wie die Sängerin. Aber die mag sie nicht besonders. Lieber deutschen HipHop. Sie setzt die Kopfhörer ihres Diskmans wieder auf und schaut ihren Freunden beim Skaten zu. Sie würde gerne mitmachen, manchmal versucht sie es auch, aber dann schmerzt wieder das Knie. Gestürzt ist sie nicht, ein Darminfekt führte zu einer Gelenkentzündung. Also bleibt sie sitzen und hört Fünf Sterne Deluxe. Was soll sie auch sonst machen?

An diesem Abend sind nur wenige zur „Molke“ gekommen. Andere hängen vor den Bushaltestellen oder Supermärkten herum, sitzen auf Fahrradständern, trinken Jever oder Cola und schnippen ihre Zigaretten über die Straße. Nur nicht zu Hause sein. Da ist es noch schlimmer. Manchmal kommt die Streetworkerin der Gemeinde vorbei und stellt Fragen. Zum Beispiel, was sich die Jugendlichen wünschen. Viele wünschen sich ein Freibad, andere hätten lieber ein Kino. Die meisten wollen eine Skateranlage, ein Jugendzentrum.

Seit den Siebzigerjahren hat es im Dorf kein Jugendzentrum mehr gegeben. Als das abbrannte, formierte sich eine so genannte Jugendzentrumsbewegung, die auf massiven Widerstand der Anwohner stieß. Die Gemeinde weigerte sich damals, einen neuen selbst verwalteten Treffpunkt zu unterstützen. Man war froh, dass das ausgelassene Treiben ein Ende hatte. Bis sich die Bewegung radikalisierte und in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) organisierte. In den folgenden Jahren tauchte die SDAJ Ihrhove regelmäßig im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht auf, viele Mitglieder erhielten Berufsverbot, engagierten sich aber weiterhin. Einige von ihnen sitzen heute im Gemeinderat.

Sade und ihre Freunde sind nicht politisch. „Wir wollen bloß in Ruhe gelassen werden“, sagen sie. Deshalb treffen sie sich hinter der Molkerei, hier sind sie unter sich. Vor ein paar Wochen noch trafen sie sich auf Parkplätzen. Für Sprünge sei der Belag besser, erklärt Thomas. Aber das hat oft Ärger gegeben. Also beschloss die Gemeinde, zunächst eine provisorische Anlage mit zwei Rampen zu errichten. Inzwischen stehen 150.000 Mark für den Bau einer 750 qm großen Anlage zur Verfügung, mit Quarterpipe und Pyramide. Später soll auf dem Gelände eine Blockhütte errichtet werden. Dann haben sie endlich einen Ort, an dem sie bleiben können. Im Nachbardorf hatte man sich eine Zeit lang erfolgreich gegen solche Jugendtreffpunkte zur Wehr setzen können. In einem Leserbrief an die Lokalzeitung fürchteten die Anwohner „Lärm, Vandalismus, Schlägereien und Schlimmeres“ und gaben den Jugendlichen den Rat, „einfach dranzubleiben“ und einen anderen Ort zu suchen.

Einer, der dranblieb, war Dennis Hillmer. Als Mitglied der Jungen Union und Vorsitzender des Jugendparlaments machte er sich für die Skateranlage und einen Jugendtreff stark. Eigentlich ist er mit seinen neunzehn Jahren schon zu alt für sein Amt, aber im Jugendparlament haben sie beschlossen, die Altersgrenze anzuheben, auf zwanzig. Bald wird es nötig sein, noch ein paar Jahre draufzulegen. Das Jugendparlament kann zwar keine Entscheidungen fällen, hat aber im Rat ein Mitspracherecht und wird von allen Politikern ernst genommen. Derzeit bemüht sich Dennis, die Verkehrsanbindung von Ihrhove zu verbessern, mit weniger Erfolg. Zum Glück hat er schon einen Führerschein und ist nicht mehr auf die Eltern angewiesen. Dennis macht gerade eine Lehre als Bürokaufmann bei einem großen Reiseunternehmer in Leer und will später als Reisebegleitung durch die Welt fahren.

Sade würde es schon reichen, aus Ihrhove wegzukommen. „Leer, das wär schon was, aber auch nicht ewig. Was Größeres, Bremen vielleicht, ich weiß nicht.“ Sie überlegt eine Weile, dann sagt sie: „Ein Ort, wo man nicht jeden Tag darüber nachdenken muss, was mach ich jetzt.“ Diese Frage stellt sie sich oft. Seit ein paar Monaten ist sie mit Wilko aus Leer zusammen, und da ist alles schon ein bisschen besser geworden. Es ist schön, verliebt zu sein. Auch in Ihrhove.

Wilko ist siebzehn und fährt fast jeden Tag mit dem Fahrrad die zehn Kilometer von Leer nach Ihrhove, um Sade zu sehen. Die schnellste Verbindung ist ein Schotterweg, der sich schnurgerade durch die flache Landschaft zieht. „Ich mach schon nichts anderes mehr“, sagt Wilko, aber das stört ihn nicht. „Ist wenigstens gut für die Beine“, sagt er. Seinen athletischen Körper zeigt er gerne, ob beim Skaten oder auf der Bühne, wenn er mit seiner HipHop-Band „Wortkomfort“ auftritt. Sades Augen leuchten, wenn sie von seinen Kunststücken erzählt. Und sie fordert ihn auf, einen Salto zu machen. Wilko zieht sein T-Shirt aus, baut sich vor der Wand auf und nimmt Anlauf. Dann dreht er sich einmal in der Luft. Sie haben Respekt vor Wilko, nicht nur weil er älter ist, sondern auch weil er eine Menge Tricks auf Lager hat. Nebenbei sprüht er Graffiti, aber sein größtes Hobby sei seine Freundin.

„Sades größtes Hobby ist das Reiten“, sagt Thomas und lacht. „Halt’s Maul“, sagt Sade. In der Gruppe ist Thomas der Sprücheklopfer, trifft man ihn allein, ist er eher zurückhaltend. Thomas ist sechzehn und will Maschinenbaumechaniker werden. Es war nicht leicht, eine Ausbildungsstelle zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im südlichen Ostfriesland mit vierzehn Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt. Ostfriesland bietet zwar viel frische Luft und einen weiten Ausblick, aber wenig Möglichkeiten. Die größten Arbeitgeber in der Region sind die Meyer-Werft in Papenburg und VW in Emden. Thomas erhielt viele Absagen. Über ein Praktikum bekam er dann doch noch eine Stelle, bei einem Betrieb nördlich von Leer, zwanzig Kilometer entfernt. Thomas sieht das gelassen. „Entweder bringen mich meine Eltern, oder ich fahre mit dem Fahrrad.“

Wenn er in der US-amerikanischen Provinz aufgewachsen wäre, dürfte er schon Auto fahren. Überhaupt sei Amerika viel „phatter“, meint Thomas. Allein schon die Skaterszene. Genau weiß er es nicht, aber sein bester Freund, Victor, war schon „drüben“. Der kennt sich aus. „Victor“, sagt Thomas, „war es auch, der uns alle mitgerissen hat mit seinem Skateboardwahn.“

Stolz präsentiert Victor seine Wunden. Wie viele Hosen und Jacken er sich durch Stürze aufgerissen hat, weiß er nicht. „Victor“, sagt Thomas, „ist gleich aufgefallen mit seinen Markenklamotten“. Das Outfit ist für die Clique an der „Molke“ extrem wichtig. Sade trägt Adidas-Turnschuhe, aber die seien voll daneben, findet Thomas. DCs oder és-Schuhe müssen schon sein. Am Samstag wollen sie alle mit dem Wochenendticket nach Münster fahren. Zu Titus, einem Szeneladen, dessen Angebot die meisten bisher nur aus dem Versandkatalog kennen. Zweimal im Jahr gibt es einen Ausverkauf. „Da kommen Leute aus ganz Deutschland hin“, sagt Sade. „Wir werden uns um die Klamotten prügeln.“ Deshalb müssen sie früh los, mit dem ersten Zug um sieben. „Das wird noch Stress geben“, sagt Victor. Zweihundert Mark will er mindestens ausgeben.

Nach Einbruch der Dunkelheit zerstreut sich die Gruppe. Sade und Wilko gehen gemeinsam zu ihr nach Hause, sie sitzen in der Küche und trinken Ostfriesentee. Die beiden planen den Abend. Am liebsten würden sie durchmachen, abends ins Limit, die Indie-Dorfdisko, und morgens nach Münster zu Titus. Als Sades Eltern vom Einkaufen zurückkommen, gibt es Streit. „Ich geh ins Limit!“, ruft Sade. „Vergiss es“, sagt der Vater. „Ich mach durch!“, sagt Sade. „Um elf bist du im Bett“, sagt der Vater. So geht es eine Weile, bis die Mutter dazwischenkommt. Sie schenkt Sade eine CD von Dynamite Deluxe und sagt: „Wir standen vor dem CD-Regal und ich sag zu deinem Vater: Guck mal, da ist Sade, und zeige auf eine von ihren CDs. Aber er schaut aus dem Fenster und sagt: Wo denn?“ Sade ist das schon gewöhnt. Sie versucht noch einmal, ihren Vater zu überreden, aber der bleibt hart. „Is nich“, sagt er und geht ins Wohnzimmer. In solchen Momenten wünscht sich Sade, dass die Jugend möglichst schnell vorbei ist.

JAN BRANDT, 26, freier Journalist, aufgewachsen in Ostfriesland, lebt in Berlin