Weltall, Erde, Marx

„Wo Gagarin ist – da ist Jerusalem“. Seit gestern ist die Mir-Raumstation aus dem All verschwunden. Dabei war die sowjetische und russische Raumfahrt auch Symbol für das Leben des Kosmonauten im Exil jenseits der Erde. Eine Nachbetrachtung über Wissenschaft und Wurzellosigkeit

Eine natürliche Betätigung im Weltraum hat sich nie gefunden

von HELMUT HÖGE

Am 21. April jährt sich Juri Gagarins Weltraumflug zum 40. Mal. Aber schon jetzt trafen sich die Freunde der sowjetischen Kosmosforschung im Berliner Haus der russischen Kultur, wo seit 1988 ein Kosmonaut Direktor ist. Ihr Treffen wurde diesmal „überschattet vom Ende der Raumstation Mir“, wie es in den Hauptstadt-Medien hieß. Der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn wünschte der Mir einen „kontrollierten Absturz“, begrüßte ansonsten jedoch ihre internationale Nachfolgerin ISS, weil solche Stationen als „Objekt des Stolzes“ für die einzelnen Nationen inzwischen zu teuer geworden seien.

Auch Alexander Kaleri war nach Berlin gekommen. Er hatte im vergangenen Jahr am 15. Juni als Letzter oben das Licht ausgeknipst – und den Autopiloten angeschaltet. Jähns damaliger Kopilot Waleri Bykowski hielt statt einer Rede, die er in Moskau vergessen hatte, eine Eloge auf Gagarin – „den Träumer und strengen Ausbilder“. Dessen Autobiografie ist auf Deutsch im Elbe-Dnjepr-Verlag erschienen. Mit Gagarin wurde – folgt man dem Philosophen Emmanuel Lévinas – endgültig das Privileg „der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Man könnte auch sagen: Seit Gagarins Weltraumflug gilt die einstige jüdische „Juxtaposition“ für jeden und niemanden mehr. Hinzu kommt, dass in der sowjetischen Kosmonautik die Psychoanalyse überlebte, d.h. jeder Kosmonaut hatte – wegen seiner irren Träume dort oben, über die auch Siegmund Jähn einmal ausführlich berichtete – neben dem Ground-Control-Diensthabenden noch einen Psychoanalytiker am Boden. Mit Lévinas kann man das damit erklären, dass diese letztmalige „Verführung des Heldentums“ sich nur „jenseits der Infantilität“ verwirklichen ließ. Vor Ort, in vielen russischen Städten, habe ich zudem auf Brandmauern einen riesengroßen blauen Gagarin gesehen – als Benjaminscher „Angelus Novus“ gemalt. Auch Ernst Blochs Diktum „Wo Lenin ist – da ist Jerusalem“ klingt überholt.

Laut Albert Einstein war die Atomphysik in ihrem Kern eine „jüdische Wissenschaft“, Ähnliches könnte man auch über den Marxismus und die Psychoanalyse sagen. Auf Deutsch erschien soeben – auch im Elbe-Dnjepr-Verlag – der zweite Band der Memoiren des stellvertretenden Leiters des sowjetischen Raketenbau-Programms: Boris E. Tschertok. An einer Stelle heißt es darin, dass trotz wiederkehrender antisemitischer Direktiven von oben (gegen die Kosmopoliten z. B.) „die Juden in der Verteidigungs- und in der Atomindustrie von Stalin und Berija nicht nur gelitten, sondern talentierte Juden sogar beschützt wurden. Sie wurden fast genauso bewacht wie Mitglieder der Regierung.“ Tschertok legt nahe, dass auch hinter dem Weißrussen Gagarin viele jüdische Forscher und Techniker standen, dass also auch die Weltraumforschung eine „jüdische Wissenschaft“ war, zumindest in der Sowjetunion. In den USA, aber auch in Frankreich und in Ägypten sowie in Zaire arbeiteten dagegen bekanntlich Nazi-Wissenschaftler an den Raketenprogrammen. Anfänglich taten sie dies auch noch für die Russen, bis 1953 wurden sie jedoch alle nach Hause entlassen. Im Osten konzentrierte man sie im Institut für Kosmosforschung, im Westen an der TU. Nach der Wende wurden „Wernher von Brauns Enkel“ (BZ) in Adlershof fusioniert.

Es ist wichtig, noch einmal an diesen ganzen Gagarin-Komplex zu erinnern – nachdem sich seit 1990 so viele sowjetische Wissenschaftler wieder in jüdische Emigranten rückverwandelten. Wenn es um das Betrauern der Mir geht, wie gerade im Haus der russischen Kultur geschehen, dann sollte man jedoch auch wissen, was einmal einer der Mir-Kosmonauten resümierte: „Wir haben unser Hauptproblem dort oben nicht gelöst. Wir können seit Gagarin in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde dies als persönliches Versagen.“

In anderen Worten: Mit dem Absturz der Mir wird auch ein Menschheitstraum begraben. Die bemannte Weltraumfahrt dient fortan nur noch der vom einstigen jüdischen Atomphysiker Edward Teller für die USA begonnenen SDI-Weiterentwicklung „National Missile Defense System“ (NMD) – und das ist, wie man spätestens seit Marx weiß, keine „produktive Tätigkeit“.

Mit ISS und NMD liegt der Schwerpunkt der neuen Weltraumforschung nun aber in Kalifornien. Ein Klein-Kalifornien schwebte bereits den Raketenbauern der SS in Peenemünde vor. Dies wurde gerade in dem Film „Prüfstand 7“ von Robert Bramkamp herausgearbeitet, der demnächst in Berlin Premiere hat. Diese Dokufiktion basiert auf Thomas Pynchons V2-Roman „Die Enden der Parabel“, der nun auch für die neue Konzeption des Raketen-Museums in Peenemünde herhalten muss, nachdem jüdische Historiker in Kalifornien gegen das Daimler-Benz/Dasa-„Spacepark“-Konzept für Peenemünde als „Wiege der Raumfahrt“ protestiert hatten: Diese deutsche Waffe habe mehr Menschenleben bei ihrer Produktion vernichtet (nämlich jüdische Zwangsarbeiter) als durch ihren Einsatz. Damals zog das Bonner Verteidigungsministerium sofort seine Mitwirkung zurück, es blieb einzig der Pynchonforscher Prof. Kittler. Der „Spacepark“ wird dagegen nun in Bremen verwirklicht. Und „Gagarins Traum“ erst einmal nirgendwo mehr. Dafür gibt es jetzt eine „Mir“ als neue Zeitung: Die kriminelle Welt. Diese russische Real-Splatter-Postille wird auch an den Berliner Kiosken verkauft. Sie ist voll mit Fotos von abgeschnittenen Gliedmaßen und Ermordeten.