Blödsinn in den Grenzen der Schwerkraft

Emil auf Speed – oder doch lieber König Lear? In Marthalers Zürcher Schauspielhaus spürt der dunkle Regieprinz der Wiener Burg, Andreas Kriegenburg, mit seiner Inszenierung „Tatis Welt“ dem französischen Filmkomiker nach

Französisch mag in der Schweiz die zweite Landessprache sein, viel mehr als „Tu veux quelque chose, du Scheiß-Franzos“ bringen dann einige Deutschschweizer aber doch nicht heraus. Schuld ist der Franzoseneinfall Ende des 18. Jahrhunderts, die darauf folgende Helvetik, kurz: der ganze Schlamassel, der am Anfang des Weges zum Bundesstaat stand. Der Franzose ist nach wie vor vielerorts der libertäre Flegel, der blöde Sachen macht und das dann auch noch als große Idee möglichst der ganzen Welt verkaufen will. Als Revoluzzer, als Postmodernist oder als Autorenfilmer mit Vorliebe für bleich gehaltene Frauen an der Seite von Kettenrauchern, die schreiben.

Das Schauspielhaus Zürich lanciert zur Zeit einen weiteren Franzoseneinfall, mit einem Filmstoff: Andreas Kriegenburg präsentiert im Schauspielhaus mit „Tatis Welt“ eine glitschige Slapstick-Parade auf den gleichnamigen Komödianten. Wie wichtig Film für Theater sein könnte, wo und wie die Transposition der Medien ästhetische Möglichkeiten böte und dergleichen, das wurde schon dringlicher diskutiert als gerade jetzt. Die Fragerei liegt ganz altmodisch im Thema selbst begründet. Freud- oder Bergson-Aufsätze – „Das Lachen“ etwa füllt in voller Länge das Tati-Programmheft – können auch nicht restlos klären, wer was warum lustig findet. Reden über Komik ist wie Reden über Sex: Ohne einen leichtfüßig melodischen Plauderton ist das kaum mehr zu haben, Denkende deutscher Zunge tun sich damit schwerer.

Deshalb hört man es bei Andreas Kriegenburg im Schauspielhaus auch selten, dieses Deutsch. Lieber lässt der dunkle Regieprinz aus dem Osten, mittlerweile Resident am Wiener Burgtheater, sein Figurenarsenal britisch exaltieren oder französisch säuseln. Ausgerechnet Kriegenburg macht Tati: Infernalisch kaputte Bürgertableaus wie Hebbels „Maria Magdalene“ oder Verschnitte aus Büchners „Dantons Tod“ und Heiner Müllers „Der Auftrag“ sind sonst sein Ding. Richtig Germania halt. Das hinterlässt Spuren, auch hier.

Jean-Pierre Cornu, seit langem ein wichtiger Marthaler-Schauspieler, ist ein überaus hinreißender Nachfahr Tatis und seiner Hulot-Figur. Er geht ganz nahe an die beiden seitlich postierten Digitalkameras ran, um die Rasur zu prüfen, er reist mit Koffern und seinem Gefährten Mr. Fool, dessen Darsteller Jevgenij Sitochins nebenbei zeigt, dass Pantomime auch mit Understatement zu machen ist und wirklich komisch sein kann. Cornus Hulot platzt derweil mit der falschen Bademütze zur falschen Zeit in die Cocktailparty rein und macht überhaupt alles ganz richtig und gut, weil eben leichtfüßig, flanierend, melodisch.

Doch die schnelle Orgelmusik und der lässige Jazz und all die überdrehten Nummern dieser mit Filmzitaten gespickten Revue täuschen nicht über die Schwerkraft hinweg, die Kriegenburg einen immer auch physisch spüren lassen will (drei Stunden lang). Zum Schluss wundert und amüsiert sich Tati/Hulot in Cornus Gestalt und Zwangsjacke im Irrenhaus über die Freakparade, die endlos an ihm vorbeizieht. O je, der Depp ist der Normale und umgekehrt. Und Tati/Hulot kriegt drei Töchter zur Seite: zwei ganz und gar mechanisch anmutende Püppchen, die er als Strumpfmodels „verdinglicht“, damit sich die Mechanik des menschlichen Verhaltens in der Moderne zeigt, so wie es ja auch bei Tati und Bergson zentrales Thema ist. Dazu noch ein abweichlerisches Blumenkind in Hosen: König Komik heißt hier unmissverständlich auch King Lear. O, Cordelia.

Es ist, als würden Kriegenburg und seine Dramaturgie der Abgründigkeit der Tati’schen Komik zu wenig trauen. Nötig hätten sie das nicht. Weil sie die Frage, was „höherer Blödsinn“ oder nur Blödsinn ist, äußerst lustig selbst aufwerfen. Denn Roland Koch als Feurwehrmann macht zweimal auf Emil Steinberger, den Schweizer Kabarettexport der Siebziger. Dieser Emil hat allerdings ganz schön Pulver in der Nase. Unverhofft im Dunkel besetzt Kochs Emil die Bühne, verteilt Taschenlampen und wettert über das Theater und die Stadt – sackgrob, immer im roten Bereich und auf Schweizerdeutsch. Zum einen reißt diese Overdrive-Nummer viele aus dem Kulturschläfchen im Plüschtheater, zum andern aber macht sie – und andere Zoten – eine Differenz auf, die auch das Marthaler-Theater wiederholt aufwirft: Was ist Komik, wo liegt die Grenze zum Boulevard, und müssen wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir uns Boulevard selbst aneignen und das richtig lustig finden?

Die Hochkulturkonzessionen führen nirgendwo hin, stören aber nicht allzu sehr. Denn Kriegenburgs Komik hat auch ohne die Verbeugungen vor großen Texten genug Anarchie, und die geradezu libidinös aufspielenden Akteure in Wimmelbildern laden tatsächlich zum Flanieren ein. Das zufällig Erscheinende zieht dann den Blick stärker auf sich als das offensichtlich für uns Gemachte, für uns Theatergänger Gedachte. TOBI MÜLLER