Bekenntnisse einer Gegengemeinschaft

„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ – wie oft noch? In der neuerlichen „Patriotismus“-Debatte wird ein Nationalstolz beschworen, der über fehlende politische Ideen hinwegtäuscht. Dagegen haben auch die Gegner des Wir-Gefühls bislang keine rationellen Argumente gefunden

In richtigem Deutsch müsste es ja heißen:„Ich bin stolz darauf,ein Deutscher zu sein“

von MICHAEL KOHLSTRUCK

„Es geht nichts über die alten Fragen, ich liebe die alten Fragen“, heißt es bei Beckett. Und genau dieses Gefühl ruft das jüngste Scharmützel namens „Patriotismus-Debatte“ hervor.

Begonnen hatte es mit dem Abschuss der Formel „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, die umgehend mit gewaltigem Gegenfeuer beantwortet wurde. Die üblichen Kombattanten eilten gerne zu Hilfe, und im Nu eskalierte der Grenzzwischenfall zum veritablen Gefecht. Politik also wie immer: Unter Fahnenwörtern formieren sich Lager und Gegenlager. Zu Stolz und Kultur, Nation und Liebe, Vaterland und Leistung fällt natürlich jedem etwas ein. Und wer zur Sache nichts zu sagen weiß, kommentiert einfach den Kommentar des Vorredners oder ruft, wie beim letzten Mal, zur allfälligen Mäßigung auf. Schön jedenfalls, dass wir uns mal wieder zu Wort melden konnten. Dies gibt Gelegenheit, an einige ältere Kommentare zum Grundtext der Debatte zu erinnern.

Das manifeste Thema der Debatte sind der Nationalstolz und die Frage, ob der Deutsche dieses Gefühl haben kann, haben darf oder – so jedenfalls die überzeugten Liberalen – haben muss. Lassen wir die Fragen zunächst beiseite, was Nationalstolz sein kann, welche Funktion er hat, was es mit der inkriminierten Formel auf sich hat und wie sich der Zeitpunkt der gegenwärtigen Debatte erklärt. Wenden wir uns dem Ort der Debatte zu.

In einem liberalen Gemeinwesen sind die Gefühle, und um nichts anderes handelt es sich auch beim Stolz, die Privatangelegenheit der Bürger. Der eine liebt seinen Freund, ein anderer die Frau des Nachbarn, der dritte die eigene Familie, die Gegend, in der er aufgewachsen ist, oder das Land, in dem er lebt. Manche lieben Europa, wieder andere sind auf Deutschland stolz. Gefühle sind Privatsache oder – im Verhältnis zum Staat formuliert – eine Angelegenheit der Gesellschaft. Haben sich Politiker um die Emotionen des Staatsvolkes oder der Bevölkerung im Ganzen zu kümmern? Sind sie verantwortlich für die großen Gefühle und die kleinen Gemütsregungen? Müssen sie sich um vermeintliche oder tatsächliche emotionale Verklemmtheiten sorgen? Sind Erbauung und Sinnstiftung ihr Job?

Ja, mit wessen Hilfe auch immer und ohne jeden Zweifel. Allerdings gilt dies nur in autoritären Regimes, in denen die staatlichen Loyalitätsforderungen die Grenzen des Privaten und Persönlichen unter Missachtung jeglicher Freiheitsrechte tief in die Seele „unserer Menschen“ oder jedes „Volksgenossen“ vorverlegen. In den ganz gewöhnlichen Staaten, die keine geschichtlichen Missionen zu vollbringen haben und auch sonst die Kirche im Dorf lassen können, in rechtsstaatlich verfassten und halbwegs liberalen Staaten also, ist es ein Unding, öffentliche Gefühlsbekundungen von Politikern oder Staatsbürgern zu verlangen und obendrein noch deren Wortlaut vorzugeben.

Nun wird kaum jemand die Debatte so wenig ernst nehmen, dass er ihre Funktion wirklich in einer Neubelebung patriotischen Geistes und nationaler Selbstvergewisserung sieht. Das ausdrücklich benannte Thema allein würde auch den Zeitpunkt der Debatte nicht erklären. In dieser Frage hilft ein Blick auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, wo Erwin Teufel vieles weiß, sich aber den anhaltenden Erfolg der sog. Republikaner auch nicht so recht erklären konnte. Jede Stimme für die Reps fehlte im Ländle jedenfalls der CDU. Nachdem die Reps im Landtag einzogen, war es mit der absoluten Mehrheit der CDU vorbei. Ein Bekenntnis zu Deutschland, so wird man sich an maßgeblicher Stelle gesagt haben, könnte vielleicht die Reps einige Stimmen kosten. In Rheinland-Pfalz versprach man sich mit der Bearbeitung von Sachfragen gegen den Landesvater Beck wenig Chancen – also durfte es auch dort von den großen Fragen ruhig ein bisschen mehr sein.

Immerhin bringt uns der Schritt vom abstrakten Thema „Patriotismus“ zu einem konkreten politischen Kontext und klaren Interessen auch wieder näher an die umstrittene Formel. Der Ton macht bekanntlich die Musik und der Kontext den Sinn. So auch hier. Genau besehen steht der Satz nicht für sich, er ist nicht, wie viele meinen, frei von impliziten Bezügen. Dagegen sprechen seine feste Wortfügung und der darin begründete formelhafte Charakter. „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ enthält zwei Gegenthesen. Er setzt dem Bekenntnis „Ich bin stolz, ein Türke/ein Amerikaner usw. zu sein“ das deutsche Selbstbewusstsein entgegen, und er widerspricht dem Satz: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.“

Der erste oppositionelle Sinn bezieht sich auf das Verhältnis der Deutschen zu Nichtdeutschen und hier natürlich primär zu den Ausländern im eigenen Land: Ich bin ein Deutscher, und ich stehe dazu! Die zweite Gegenbedeutung hängt offensichtlich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zusammen und widerspricht in Sachen NS-Vergangenheitsbewältigung denjenigen, die Schuld und Verantwortung mit Scham und Schande verbinden. Nein, sagt der Satz, ich will mich als Deutscher nicht schämen müssen!

Die Grenze zu Ausländern wird über einen selbstsicheren demonstrativen Nationalstolz gezogen. Wir, die wir diesen Satz vor uns hertragen, wissen, wer wir sind und dass wir wer sind. Wir müssen uns mit unserer Nationalität nicht verstecken, schon gar nicht in Deutschland selbst. Wir bleiben unseren Werten treu und bewundern die deutsche Leistung. Von hier an wird es allerdings schwierig mit dem festen Aufstampfen und dem trotzigen Bekenntnis. Denn was sind nun die deutschen Werte, was die deutschen Leistungen? Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang? Die alte deutsche Einfachheit, die schon Tacitus an den Germanen gerühmt hatte, um sie der Dekadenz Roms entgegenzuhalten? Grimmelshausen, Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Körner, Karl Marx, Gustav Freytag, Hedwig Courths-Mahler, Kurt Tucholsky, Gottfried Benn und Hans Dominik? Die Organisation der alten Reichspost, bekanntlich eine bedeutende Inspirationsquelle, und die Umstellung auf die fünfstelligen Postleitzahlen? Helmut Kohl, Boris Becker und Kati Witt und wer noch? Offensichtlich ist man auch hier von den Problemen mit der windigen Worthülse einer „deutschen Leitkultur“ nicht weit entfernt: Jede Bestimmung eines Kerngehaltes deutscher Kultur schließt notwendigerweise andere Inhalte aus, die den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung hätten. Anything goes im Selbstbedienungsladen der deutschen Geschichte.

Wo aber alles gilt, hat nichts Gültigkeit. Für die Parteipolitik ist diese inhaltliche Unbestimmtheit alles andere als ein Schaden: Die unzähligen Objekte des Nationalstolzes sind beliebig verfügbar und stellen sich keinem in den Weg, der zur Gemeinschaft der stolzen Deutschen gehören will. Kosten entstehen auch keine.

Man scheint auf ein Bedürfnis bei den Deutschen zu spekulieren, der Abgrenzung von den Ausländern im eigenen Land eine präsentable Form zu geben. Vieles spricht dafür, den latenten Anknüpfungspunkt dieser Formel im Verhältnis zu Asylbewerbern, anderen Flüchtlingen und ansässigen Ausländern zu suchen. Es gibt eine stattliche Minderheit unter den Deutschen, die aus ethnischen und sozioökonomischen Motiven Vorbehalte gegen Ausländer hat, und eine Mehrheit ist gegen weiteren Ausländerzuzug. Eine transparente Gestaltung von Zuwanderung, Flüchtlingsunterstützung, Einbürgerung und Integration wäre eine politische Aufgabe auf der Höhe der Zeit. Das würde bedeuten, im Wertbezug des Grundgesetzes und in Konfrontation mit Sachfragen zu arbeiten. Wie leicht ist es dagegen, die stolzen Deutschen zusammenzutrommeln.

Nur in autoritären Regimes fordert der Staat Loyalität auch im Privaten und Persönlichen

Auch mit dem zweiten Gegensinn der Parole soll eine Gemeinschaft selbstbewusster Deutscher geschaffen werden. Hier sind die Fronten klar: Der stolze Deutsche kann eine deutsche Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen nicht hinnehmen. Er tritt denen entgegen, die von ihm fordern, sich zu schämen. In dieses Horn kann man ungestört stoßen und den Widerwillen dagegen, „in Sack und Asche zu gehen“, gefahrlos bekunden: Bei dem Kontrahenten handelt es sich um einen selbst gebastelten Gegner, der sich ohne größeren Aufwand effektheischend niederstrecken lässt. Wo die Debatten um das Erbe des Nationalsozialismus ernsthaft geführt werden, spricht man von einer Verantwortung Deutschlands als politischem Verband und schon lange nicht mehr von „deutscher Schuld“. Die geschichtswissenschaftliche Forschung unterscheidet zwischen historischen Ursachen und der Zurechenbarkeit von moralischer Schuld an einzelnen Personen. Die Furcht vor einem „Paria-Dasein“ der Deutschen (Karl Jaspers), verachtet von ihren Nachbarn, ist über ein halbes Jahrhundert alt. Ein weit gehender Realitätsverlust kennzeichnet den, der dies für die heutige Wirklichkeit hält.

Auch in dieser Hinsicht ist der Satz vom stolzen Deutschen ein Mittel, um Gegengemeinschaften zu sammeln und Grenzen zu ziehen. Es ist ein Appell an diejenigen, die sich moralisch „schief angesehen“ fühlen und mit den anderen gleichziehen wollen. Seriös wäre das Eingeständnis, dass das fragile Nationalgefühl der Deutschen mit ihrer Geschichte und ihren Verbrechen zusammenhängt. Realistisch wäre die Einsicht, dass es deshalb kein unbefangenes Nationalgefühl gibt. Naiv ist die Vorstellung, man könne den Deutschen ein Nationalbewusstsein politisch dekretieren oder initiieren, das dem durchschnittlichen Kollektivstolz der europäischen Nachbarn entspricht. Es ist, wie es ist, sagt der Historiker.

Die Formel „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, die in richtigem Deutsch ja heißen müsste: „Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein“, ist seit geraumer Zeit ein Integrationssymbol im rechtsextremen Lager. Erstmals ist sie wohl Ende der Siebzigerjahre in Westdeutschland aufgetaucht, als sich in der Übergangszone zwischen Fußballfans und Sporthooligans politisch provokante Parolen breit machten. Heute wird das kreisrunde Emblem, auf dem sich der deutsche Bekenntnisstolz um einen stattlichen Reichsadler im Halbkreis aufstellt, etwa von der DVU und der NPD vertrieben.

Die rechtsextreme Jugendkultur kann das Zugehörigkeitssymbol in den Farben Schwarz-Weiß-Rot über diverse Versandgeschäfte beziehen, die auch weitere Accessoires für Skinheads und bekennende Kurzhaardeutsche im Angebot haben. Das alles sind Tatsachen, die dem Zeitungsleser bekannt sind und die die politischen Profis kennen sollten.

Wer seine legitimen Interessen an Wahlerfolgen mit einer Formel verfolgt, die von politischen Extremisten und fremdenfeindlichen Schlägern als Bekenntnisparole verwendet wird, will dem Stammtisch imponieren und seinen politischen Konkurrenten provozieren. Nicht jede Antwort ist freilich gerechtfertigt, und die Affekte eines inversen Nationalismus sind kaum weniger unsympathisch als die seines affirmativen Bruders. Söhne der politischen Klugheit sind beide nicht. Doch wundern darf sich der Provokateur nicht. Wer Wind sät, muss mit Sturm rechnen. Vergleichbar ist er nur mit demjenigen, der die Reichskriegsflagge, bekanntlich ebenfalls ein Rechtsaußen-Symbol, hinter seinem Jägerzaun aufzieht und naiv tut, wenn der Nachbar mit dem Gartenschlauch dagegen hält. „Ich interessiere mich nun mal für die christliche Seefahrt, ist das denn nun auch schon verboten?“

Dr. Michael Kohlstruck ist Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte sind politische Soziologie, Zeitgeschichte, politische Kultur und Jugendforschung in der Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin