„Es geht uns an die Existenz“

Fünf Monate nach ihrem letzten Streik legen die Berliner und die ostdeutschen Ärzte erneut die Arbeit nieder. Morgen demonstrieren sie in Berlin. Trotz der Klagen, arm sind sie nicht: Der Durchschnittsgewinn der Ärzte im Westen beträgt im Jahr 190.000 Mark, im Osten 150.000 Mark

BERLIN taz ■ Rund um das Bundesgesundheitsministerium machen die Ärzte reihenweise ihre Praxen dicht, und Ministerin Ulla Schmidt (SPD) schweigt. „Kein Kommentar“, ließ sie gestern ihren Pressesprecher schmallippig verlauten. Die Ministerin wolle sich das Treiben der streikenden Mediziner genau anschauen und setze weiterhin auf Dialog.

Seit gestern streiken etwa 2.000 von 6.000 niedergelassenen Ärzten in Berlin. Auch ihre Kollegen in Sachsen sperren Patienten aus den Praxen aus. Im Laufe der Woche wollen die Ärzte in den restlichen neuen Bundesländern nachziehen. Für Mittwoch haben sie eine Kundgebung am Brandenburger Tor angemeldet. Wenn alle Ärzte und Psychotherapeuten dem Aufruf des ostdeutschen Aktionsrates folgen, könnten am Ende der Woche insgesamt 26.000 Mediziner im Ausstand sein.

Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten wollen sie mit Aktionen auf ihre angebliche miserable Lage aufmerksam machen. Gegenüber dem zweiten Quartal sei im dritten Quartal des Jahres 2000 der Umsatz um fünf Prozent zurückgegangen, klagt der Berliner Berufsverband der praktischen Ärzte.

Die Mediziner fordern eine sofortige Aufstockung des Honorartopfs um 600 Millionen Mark. Derzeit liege das Honorarvolumen in Ostdeutschland bei 77 Prozent des Westniveaus, und selbst nach der Finanzspritze reiche das Niveau lediglich an 86 West-Prozent heran, bemängelte der Aktionsrat gestern auf einer Pressekonferenz in Berlin.

Bei diesem Streik handle es sich um eine lebenserhaltende Maßnahme, sagt Anton Rouwen, Sprecher des Aktionsrates: „Es geht uns an die Existenz.“ Rouwen arbeitet als Kardiologe in Berlin-Kreuzberg und kann für eine fünfminütige Blutdruckmessung inklusive Beratung des Patienten nach eigenen Angaben 1,98 Mark an Honorar verbuchen. Dass eine vergleichsweise niedrige Honorierung auch mit der hohen Ärztedichte zusammenhängt, will er aber nicht gelten lassen. Auf keinen der Berliner Ärzte könne man verzichten, sagt Rouwen.

Berliner Ärzte sind für alles Mögliche, nur nicht für ihre Sparsamkeit bekannt. In den beiden vergangenen Jahren haben sie ihr Arzneimittelbudget mit jeweils 97,9 Millionen Mark überzogen. Nun müssen sie den Regress fürchten.

Statistisch gesehen, geht es Ärzten keineswegs so schlecht, wie behauptet. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kamen sie 1997 im Westen nach Abzug aller Kosten auf einen durchschnittlichen Gewinn von 190.000 Mark; im Osten waren es immerhin noch 150.000 Mark. Offiziell operieren Berliner Ärzte mit einem weitaus niedrigeren Einkommen von 90.000 Mark – freilich ohne es belegen zu können.

Am liebsten würden sie das derzeitige Honorarsystem abschaffen und alle Patienten auf Privatrechnung behandeln. Kassenpatienten könnten sich das Geld ja von der Versicherung zurückholen, schlägt Rouwen vor. Und wenn der Doktor über Gebühr abrechnet, muss der Patient privat draufzahlen.

ANNETTE ROGALLA