Schönheit und Trauer

Man muss schon blind sein, um Gott sehen zu können: Der iranische Regisseur Majid Majidi erzählt in seinem neuen Film „Die Farben des Paradieses“ von der märchenhaften Reise ins Innere der Welt

von THOMAS WINKLER

Wie fühlt es sich an, die Hände ins kalte Wasser eines Bachs zu tauchen? Wie fühlt sich der nasse Sand an zwischen den Fingern, wie der Fahrtwind in den Handflächen?

Es sind die einfachen, die allereinfachsten Dinge des Lebens, von denen „Die Farben des Paradieses“ erzählt: Ängste und Hoffnungen, Schönheit und Verzweiflung, Traurigkeit und Liebe, Vertrauen und Glauben. Dinge, so einfach, dass sie schon wieder kompliziert sind. Einfach, weil Mohammad acht Jahre alt ist. Und kompliziert, weil Mohammad blind ist und sein Vater sich überfordert fühlt und wieder heiraten und ihn eigentlich loswerden will. Die Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, die Familie ist arm und lebt in einem Dorf im Norden des Iran, Mohammad geht in Teheran auf eine Spezialschule für Blinde. In den Sommerferien holt ihn der Vater nur widerwillig nach Hause.

Während Mohammad dort mit seinen Schwestern und der Großmutter die überwältigende Natur erfährt, ist der Vater blind für das Glück seiner Familie, blind für die Schönheit seiner Umgebung, blind für das Leben. Und darum geht es, um das Leben, das hier so intensiv gelebt wird, dass einem der Durchschnittsfilm aus einem westlichen Industrieland im Vergleich dazu wie ein mühevoll animiertes Wachsfigurenkabinett erscheinen muss.

Wie „Kinder des Himmels“, Majid Majidis vorheriger Film, war auch „Die Farben des Paradieses“ im letzten Jahr für den Auslands-Oscar nominiert. Wieder einmal hat der iranische Regisseur mit Laiendarstellern gearbeitet. Allein die Rolle des Vaters hat er mit Hossein Mahjub, einem erfahrenen Schauspieler, besetzt. Mohammad wird gespielt von Mohsen Ramezani, der selbst seit seiner Geburt blind ist. In seinem Gesicht spiegeln sich seine Erfahrungen und Empfindungen so ungebrochen und direkt, wie es kein Method Actor hätte darstellen können. Vielleicht deswegen, weil hier eben nicht dargestellt wird.

Wenn selbst die Gesten und Blicke nicht genügen, die Gefühle zu groß werden, dann müssen Bild und Tonspur ausdrücken, wozu den Menschen die Worte fehlen. Indem Majidi die Empfindungen seiner Protagonisten mal mit der Landschaft, ihren Farben und ihren Klängen kontrastiert, mal sie einander ergänzen lässt, erinnert sein Film trotz aller Farbigkeit mitunter an die großen Epen der Stummfilmzeit. Majidi mag von einem Kind erzählen, mag den Blick richten auf seine Geschichte aus der Perspektive eines Achtjährigen, aber ein Kinderfilm ist „Farben des Paradieses“ trotzdem noch lange nicht. Fast schon zu kunstvoll, andererseits aber doch auch sehr einfach beschreibt Majidi die existenziellen Probleme seiner Protagonisten. Trotzdem ist „Farben des Paradieses“ im Gegensatz zu anderen iranischen Filmen, auch den früheren Majidis, kaum als gesellschaftliche Bestandsaufnahme zu lesen.

Zu unwirklich, zu märchenhaft ist die Geschichte und vor allem ihre visuelle Umsetzung. Iran wird zu einer heilen, märchenhaften Welt, in der selbst die dunklen Wälder weniger bedrohlich als eher verwunschen wirken. Der Nebel zieht über die Hügel, Hühnerfedern treiben in Zeitlupe mit dem Wind. Immer wieder dringen seltsame kehlige Laute aus dem Wald, deren Herkunft nie erklärt werden, als hauste dort ein Drache oder ein anderes verfluchtes Wesen.

In einer solchen Welt wird plötzlich sogar die Gegenwart Gottes selbstverständlich. Ursprünglich sollte der Film „Die Farbe Gottes“ heißen. Mohammad ist mit seinen Händen auf der Suche nach Gott, den man nicht sehen kann, nur spüren in den Dingen, in der Natur, im Leben. Man muss nicht religiös sein, um das spüren zu können, man muss das nicht Gott nennen. Auch wenn schließlich doch noch ein Wunder passiert und sogar der Vater wieder sehen lernt.

„Die Farben des Paradieses“, Buch & Regie: Majid Majidi, Kamera: Hashem Attar, Mohammad Davudi. Mit Mohsen Ramezani, Hossein Mahjub, Salemeh Feizi, Iran 1999, 88 Min.