„Du sollst nicht stolz sein!“

Die Debatte um nationale Gefühle führt in die Problemzone der Sprache – christlich ist an dem Bekenntnis von Meyer und Co. nichts. Heute soll nun der Bundestag entscheiden, ob Jürgen Trittin wegen seines Skinhead-Vergleichs tragbar ist für Deutschland. Eine kleine Tugendleere aus aktuellem Anlass

von REINHARD KAHL

„Schwer hasst Zeus der vermessenen Zung’ hochfahrenen Stolz“, sendete Sophokles’ Radio Antigone an die Griechen. Und erst die Bibel: „Wer auf etwas stolz sein will, soll stolz sein auf das, was der Herr getan hat“ (1. Kor. 1. 31.). Denn Gott, der eine und einzige, der die polyteistische Konkurrenz schon mit seiner ursprünglichen Akkumulation von Herrlichkeit weggebissen hat, der versteht da keinen Spaß, er „reißt weg das Haus der Stolzen“.

Der Turmbau zu Babel war der erste große GAU von Stolz und Hybris. Seitdem gilt: Stolz ist die Welt, bis sie der Fall wird. Also pass auf, Du Mensch, „besser demütig sein mit Gebeugten als Beute teilen mit Stolzen“ (Spr. 15. 25.). Bei Jesaja steht, was Dir blüht, „wenn Dein Stolz an meine Ohren kommt, werd ich Dir einen Ring an die Nase legen und ein Gebiss in Dein Maul“. Au Meyer, da gibt es kein Entkommen, womit auch immer die Stolzen ihren Stolz entschuldigen, ob mit dem deutschen Schwarzbrot, das zeitgenössische Sünder als Objekt ihrer Verirrung vorschieben, oder ob gleich mit dem ganzen D.land, das endlich wieder A-Land werden will. Die Christen sollten es wirklich wissen: „Gott widersetzt sich dem Stolzen; aber dem, der sich gering achtet, wendet er sich zu.“ Also, wo sitzen im Bundestag die wahren Christen? Genau. Wenigstens Gott ist ihnen grün. Bei der CDU soll sich bloß keiner rausreden, das sei alles längst verjährtes Altes Testament. Nach der Reformation sang man erst recht „ach komme doch und schwäch der Stolzen Übermuth“. Das Lutherdeutsch war eine einzige Vorsorgebehandlung gegen diesen Rausch der Hinfälligen: „Ihr Jungfern, hört mir zu; doch fasset die Geberden und meint durch meinen Ruhm nicht stölzer wo zu werden.“ Soviel aus christlicher Sicht. Und noch einen Kierkegaard als Bonusausschüttung für die Wadenbeißer Meyer und Koch: „Der Stolz ist eine abgründige Feigheit.“ Doch versuchen wir uns die Sache mit dem Stolz genauer anzusehen, sie ist nämlich richtig interessant. Stolz oder nicht stolz, das ist überhaupt nicht die Frage. Eher geht es mit dem Stolz wie mit allen guten irdischen Stoffen. Sie sind köstlich, es sei denn, man nimmt zu viel davon. Was kann man denn gegen Wein haben, zumal gegen einen guten? Aber immerzu Wein? So ist es auch beim Stolz. Man muss sich die Mischung ansehen, muss nach dem Kontext fragen und natürlich danach, wer hier eigentlich worauf stolz ist und warum?

Wenn man sich hinsetzt und dem Stolz nachspürt, dann stellt sich erst mal der Alexander-Kluge-Effekt ein: „Je mehr man sich dem Wort nähert, desto weiter zieht es sich zurück.“ Es wehrt sich dagegen, definiert zu werden. Wie die Zauberfee im Märchen, sobald man sie beim Namen ruft, ist sie schon verschwunden. Deshalb kommt man auch mit der guten, alten Philosophie nicht sehr weit. Nicolai Hartmann verbucht Stolz unter Tugenden. Er nennt das den „echten Stolz“. Mit der reinen Kategorie kann ihm die gemischte Wirklichkeit nicht mehr gefährlich werden. Zum „echten Stolz“ gehört auch „echte Demut“, sie „gehören notwendig zusammen, können nur in Synthese bestehen. Stolz ohne Demut ist immer auf der Kippe nach Hochmut und Eitelkeit zu.“ Nur kommt die ganze Aufregung von Sophokles bis Luther daher, dass uns die Synthese im Leben nicht so gut gelingt wie dem Denker am Schreibtisch. Nicolai Hartmann, setzen, der Nächste bitte!

Max Scheler, der Phänomenologe, hat sich ebenfalls auf den Stolz vorbereitet und begreift ihn als das „positive Gefühl des eigenen Selbstwertes“. Auch bei ihm geht das nur so lange gut, wie er die Probleme aus der positiven Zone raushält. Die gehören, pfui, zum Hochmut. Stolz hingegen, findet Scheler, sei gezähmter Hochmut. Aber da wird noch kein Buch draus. Wenn er nun die Probleme wieder zurückholt, damit die Geschichte weitergeht, kommt er ins Schlingern und konstruiert eine schöne Achterbahn. Da wuchert der domestizierte Stolz zum „Seinsstolz, der das Ich immer enger und enger einkreisende“, bis sich das Ich zum Punkt zusammenzieht. Der Stolz strebt nach absoluter Souveränität und akzeptiert zum Schluss keinen anderen Wert als sein „eigenes Selbst“. Der Mensch wird leer. Und so verkörpert der „Seinsstolz“, was die alten Theologen Superbia nannten, „das Teuflische, das zur Hölle leitet“. Dieser Stolz kappt alle Verbindungen zu „Gott, Universum und Mensch“. Er zerstört die Liebe. Am Ende muss Max Scheler seinen Versuch, den Stolz durchgehen zu lassen, wenn er nur nicht in Hochmut ausartet, aufgeben. Der Stolze, zu Ende gedacht, gerät ihm zum „déserteur du monde“. Aber zu Ende gedacht führen bekanntlich die kleinsten Probleme in die größten Katastrophen. Im Leben kommt immer was dazwischen, aber die Philosophen verlangen Eindeutigkeit. Sie wollen sagen, wie es geht und was richtig ist. Das ist ihre Falle. Beim Versuch, die Welt in Ordnung zu bringen, entgleitet ihnen die wunderbare Ambivalenz.

Ganz anders die normale Sprache mit ihrem heillosen Fixierspiel, das nichts eindeutig bleiben lässt. Da wird Stolz eben noch verächtlich gemacht, „Dummheit und Stolz, wachsen am gleichen Holz“, und gleich darauf heißt es: „Edler Stolz krümmt sich nicht vor Holz.“ Wenn jemandem der Stolz ganz abhanden kommt, wird es so schlimm, wie wenn der Stolz ihn aufbläht. Das Gedächtnis der Sprache erinnert sich daran, was es heißt, wenn Menschen ihr Stolz genommen werden soll, es hat die Erfahrungen von Demütigung gespeichert, und es kennt die Parvenüs. Deshalb „besser stolz am irdenen Topfe als demütig am goldenen Tisch“.

Stolz, solange er nicht auf Dauer gestellt wird, ist ein starkes Verhältnis des Menschen zu sich selbst. „Der Stolze kann große Bäume ausreißen“, weiß das Volk. In den Märchen und Fabeln kann man stolz wie ein Löwe sein oder stolz wie ein Adler. Auch Pferde werden als stolz bewundert. In der Sprache der Bergleute „steht der Stempel stolz und senkrecht auf der Sohle“. „Ich bin zu stolz um ein Amt zu betteln“, dichtet Schiller und „er ist zu stolz sich zu verbergen“, lässt Goethe seinen Helden sagen. Stolz heißt hier, sich aufzurichten. Diese Bewegung ist etwas anderes als die steif gewordene Vermeidung von Bewegung und ihr doch ganz verwandt. Man muss an den großen Satz von Lessing aus seinem Faust-Fragment denken. Was ist die schnellste Bewegung in der Welt, wird gefragt. Die Antwort: der Übergang von Gut zu Böse, von Richtig zu Falsch. Wo dieser Übergang liegt, lässt sich nicht definieren. Wo ist der Übergang von der stolzen Erhebung in den aufrechten Gang zum Stehaufmännchen? Was wird aus Stärke, wenn sie die Fühlung zu der Schwäche verliert, aus der sie sich erhoben hat?

Wenn man an diesen Punkt gelangt, wird es Zeit, Montaigne zu lesen, den Meister der Ambivalenz: „Das unseligste und gebrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch, und immer wieder das stolzeste.“ Und gleich neben Montaigne steht der kleine, bucklige Mann aus Göttingen, der große Georg Christoph Lichtenberg: „Die kleinsten Unteroffiziere sind die stolzesten.“ Das sind die Leute, die ihre Aufrichtung hinter sich haben und sie nun vor sich her tragen. Ganz anders ist es, wenn Stolz immer wieder neu geboren und bald wieder abgelegt wird: „Wie unglücklich wäre ich, wenn ich nicht mehr stolz sein könnte“, schrieb Heinrich von Kleist an Ulrike. Lichtenberg stimmt zu: „Der Stolz, eine edle Leidenschaft, ist nicht blind gegen eigene Fehler, aber der Hochmut ist es.“

Ob Stolz oder die Gegenindikation, Demut, die in den Kirchen gefeiert und in den Philosophenstübchen zu Rate gezogen wird – es wird vertrackt, sobald man die Bewegung stoppt, gleichsam den Film anhält und am Standbild die Sache klären will. Dann wird der Stolz aus dem Zusammenhang der vielen möglichen Sätze gelöst, von den Verben abgeschnitten, als Substantiv isoliert und zur Substanz kondensiert. Vom Kontext getrennt schnurrt er zusammen und ist nicht mehr zu finden. Die Lichtenbergs wissen das: „Der Stolz der Menschen ist ein seltsames Ding, es lässt sich nicht sogleich unterdrücken und guckt, wenn man das Loch A zugestopft hat, ehe man sich’s versieht, zu einem andern Loch B wieder heraus, und hält man da zu, so steht er hinter dem Loch C usw.“.

Anders die gesalbten Profis der Lehre und die Hagestolze der Predigt, die nicht aufhören zu behaupten, den verborgene Kern gefunden oder einen gleichbleibenden, den Begriff durchströmende Sinn isoliert zu haben. Von ihren tauben Nüssen sind die Bücher voll. Der schlaue Heinz von Foerster fand ein ganz passables Mittel, diesen Täuschungen zu entkommen. Der Mitbegründer der Kybernetik und Eidvater des „radikalen Konstruktivismus“ hatte in seinen Seminaren an der Universität von Illinois nur eine Regel, aber auf dieser beharrte er: Jeder Student durfte alles sagen, aber wer große Substantive wie „die Wahrheit“, „der Geist“, „die Substanz“, „der Mensch“ oder auch „der Stolz“ gebrauchte, der musste einen Dollar zahlen. Das war in den 60er-Jahren viel Geld, und diese Verabredung verbesserte die Debatten ungemein.