IN OSTDEUTSCHLAND STREIKEN DIE ÄRZTE AM THEMA VORBEI
: Fortgesetztes Jammern

Patienten gewöhnen sich ja an vieles. Daran, dass sie nur mittelmäßig versorgt werden, obwohl jede zehnte verdiente Mark ins Gesundheitssystem fließt. Daran, dass Krankenkassen die Rechnungen von Krankenhäusern nicht begleichen, um die Kliniken finanziell in die Knie zu zwingen. Nun aber stehen auch noch in Berlin und dem Rest Ostdeutschlands die Ärzte auf der Straße und beklagen ihren finanziellen Untergang. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 165.800 Mark (Ost) fällt es schwer, den Klagen aufrichtige Anteilnahme entgegenzubringen. Trotzdem ist der Protest bemerkenswert.

Hinter dem fortgesetzten Jammern eines ganzen Berufsstandes steht die kollektive Furcht vor dem Verlust von angestammten Sicherheiten. Mehr und mehr werden sich Ärzte darüber bewusst, dass sie in Zeiten stagnierender Honorare einer wachsenden Konkurrenz untereinander ausgeliefert sind. Wo sich 1960 noch 92.000 Freiberufler um die Honorartöpfe scharten, drängen sich heute 290.000. Und jährlich kommen 5.000 Mediziner hinzu. Der Konkurrenzdruck wächst. Und mit ihm die Spreizung der Einkommen.

Wer heute Arzt ist, muss sich mit dem Risiko einer selbstständigen Existenz auseinander setzen. Eine soziales Auffangnetz für Mediziner existiert nicht: Wer am Existenzminimum krebst, weil die Honorare nicht wie erwartet fließen, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die berufsständischen Vorsorgeinstitutionen kennen kein Sicherungssystem, das Freiberufler auf der wirtschaftlichen Talfahrt aufhalten könnte.

Noch hält sich die Zahl der echten Hungerleider unter den ostdeutschen Ärzten im überschaubaren Rahmen. Aber die kollektive Angst vor dem Absturz ist nicht unbegründet. Dieses Gemeinschaftsgefühl bestimmt die Dynamik des gegenwärtigen Protests. Wer jetzt einfach nur mehr Geld fordert, denkt zu kurz. Das Gesundheitswesen der Zukunft wird nicht mehr nach dem simplen Prinzip funktionieren: Viel Geld hilft mehr. Die Ärzte stehen vor einer neuen sozialen Frage. Darüber müssten sie reden. ANNETTE ROGALLA