Ende oder Wende?

Gern wird den Grünen geraten, sich auf die Stammwähler zu besinnen. Doch genau die sind das Problem. Die Partei muss sich von ihren Anfängen endgültig verabschieden

Eine griesgrämige und zukunftsscheue grüne Partei dürfte bald unter dem Fünf-Prozent-Marmor ruhen

Ist es wirklich so schwer, den nachhaltigen Niedergang der Grünen zu erklären? Viele alte Wähler, aus der Gründerzeit der Partei, bleiben weg, und neue kommen kaum hinzu. Beide haben dafür aus ihrer Sicht gute Gründe. Für die einen haben die Grünen die Ideale des Anfangs verraten. Für viele andere sind sie noch zu sehr die Partei des Anfangs: der alten Methoden, Milieus und Themen; vor allem junge Leute finden zu ihr keinen kulturellen Zugang.

In dieser Lage kommt von allen Seiten der gute Rat, sich auf die Stammwähler zu besinnen, den alten Grundsätzen treu zu bleiben. Er kommt scheinheilig von CSU und FAZ, die den Grünen Opportunismus vorwerfen, wenn sie sich pragmatisch geben, und Radikalismus, wenn sie sich als prinzipientreu erweisen. Der gute Rat kommt aber auch mitfühlend aus der Partei selbst: „Die eigenen Anhänger mobilisieren“, sollen sie und signalisieren, dass man sie ernst nimmt. Oder: „Wenigstens aussprechen, was sich Bewegung, Stammwähler und grüne Basis wünschen“, das forderte Matthias Urbach am 27. März auf dieser Seite.

Doch geht das überhaupt, und kann es Erfolg bringen, Erfolg für die Grünen, nicht für die SPD oder die CDU? Viele Stammwähler werfen den Regierungsgrünen „Verrat“ vor, weil sie von der einen und reinen Lehre in ihrem Regierungshandeln abgefallen sind – sei es im Kosovokrieg oder beim Atomkonsens. Verrat? Ist das überhaupt noch die Sprache der Politik? Oder erinnert es nicht eher an die Sprache religiöser Bewegungen? Vieles von dem, was sich nicht erst heute und nicht nur im Wendland bei den Grünen abspielt, lässt sich wohl am besten mit den Kategorien der Religionssoziologie begreifen. Aus der Perspektive einer radikalen Minderheit wirkt der „Verrat“ der institutionalisierten Mehrheit deshalb besonders schlimm, weil sie ja einmal gemeinsam den Glauben an die (politische) Wahrheit geteilt haben.

Kompromisse sind dann schlimmer als Konflikte und Kreuzzüge. Mehr noch: Die Stärke der Personen, Gruppen und Glaubenssysteme hängt ganz essenziell davon ab, dass sie sich gegen Argumente und den Rest der Welt, schon gar gegen solch profane Dinge wie irrende Mehrheitsentscheide, zuverlässig immunisieren.

In dieser Lage, getroffen von der Schleuder des „Verrats“, Verständnis zu artikulieren oder zu verlangen, macht die Sache nur schlimmer. Denn so ein „Verständnis“ bestätigt das Ruchlose des Verrats, legitimiert die fremde und entlegitimiert die eigene Position. Dieses Verständnis holt die Abtrünnigen nicht zurück, sondern bestärkt sie in ihrem Glauben. Wenn sich wichtige RepräsentantInnen der Grünen im Wendland auf die Traktoren schwingen, dann wollen sie eine einfache und klare Botschaft verkünden: Wir verstehen euch. Eigentlich würden wir selber gerne mitblockieren. Nur regieren wir dummerweise gerade in Berlin. Diese Botschaft verstehen jene, die ihnen den Verrat ins Gesicht schleudern, und ihre Verachtung wächst. Diese Botschaft verstehen auch jene, die gerne an die Häutung dieser Partei glauben, und es erneuert sich die Entfremdung.

Alle Parteien haben, auf unterschiedliche Weise, ein ähnliches Problem; sie alle haben lose, religiös aufgeladene Enden, und oft entzünden sich hier auch wichtige Fragen. Bibeltreue Christen und solche „für das Leben“ soll es geben, aber besser außerhalb der CDU und auf ihrer eigenen Liste. Die Zukunft der SPD hängt davon ab, dass bekennende Sozialisten ihr Museum pflegen oder zur PDS gehen. Die Frage ist also: Spielen die Szenen im Wendland für jeden Wähler erkennbar in einem anderen politischen Film, oder gehören sie zum grünen Gesamtkunstwerk? Am Rande jeder Bewegung steht ein Teil, der nicht politik- und kompromissfähig ist. Er mag wichtige Anliegen artikulieren, aber er wird zum Verhängnis, wenn er sich einer Partei oder der Gesellschaft bemächtigt.

Eine Zukunft haben die Grünen als liberale Partei mit ökologischem Profil undsozialem Verstand

Abschied von den Anfängen: Das ist ein schmerzlicher Schnitt. Noch heute wecken Themen wie Atomkraft und Pazifismus große Leidenschaften – bei einer immer kleineren Zahl. Doch die alten Themen (der alten Bundesrepublik, nebenbei) altern: Der Kalte Krieg ist vorbei, und der Atomausstieg ist beschlossen. Es ist keine neue Erfahrung, dass alte Leidenschaften, Bündnisse und Feindschaften die Gründe und Anlässe ihrer Entstehung oft lange überleben. Bilder und Ballast aus alten Kampfzeiten hindern die Grünen nun daran, eine neue Koalition von Ideen und Wählern zustande zu bringen. Eine Zukunft haben die Grünen als liberale (libertäre) Partei mit ökologischem Profil und sozialem Verstand.

Doch wer soll das machen, mit welchen Themen, für welche Wähler, auf welche Weise? Die Themen sind noch das geringste Problem. BSE, MKS und die Folgen haben der frühen grünen Kritik am agrarindustriellen Komplex neuen Wind in die Segel geblasen. Es ist ein Glücksfall für die Grünen, dass ein Kernbereich ihrer Kompetenzen plötzlich ins gesellschaftliche Zentrum rückt und dass sie an ihm demonstrieren können, wie Subventionen zu Fehlsteuerungen führen; dass mehr Markt besser ist als staats- und euromonopolistischer Bürokratismus; dass Funktionäre meist für sich selbst und nicht für Mitglieder und Verbraucher sprechen.

Warum aber, anderes Beispiel, redet die Vorsitzende der Grünen nicht über die neue Arbeitswelt und ihre Chancen – und umschmeichelt stattdessen, bei der Reform der Betriebsverfassung, die Dinosaurier der Industriegesellschaft? Andere Themen warten darauf, wieder entdeckt zu werden: das Auseinanderfallen von Gehalts- und Produktivitätsentwicklung etwa. Schließlich leisten junge Leute oft viel und verdienen wenig, während Ältere dann am meisten bekommen, wenn sie am wenigsten leisten – eine Lunte an verschiedenen Ecken und Enden der Gesellschaft. Frische Ideen nicht nur in diesem Bereich, und man müsste nicht lange rätseln, wann und wie junge Leute wieder hinhören. Oder die Bildungspolitik: Hier käme es für die Grünen darauf an, statt mit alten Parolen hinter den Entwicklungen und Kompromissen herzulaufen, sich (ideen-)politisch zeitlich und konzeptionell vor diese zu setzen, statt sich von einem generösen Kanzler aushalten zu lassen.

Die Themen sind da, doch wo sind die Wähler? Sie stehen nicht irgendwo rum und warten, sie sind in Bewegung. Da sind jene, liberal nach Stil und Überzeugung, die mit der neuen Mesalliance von Wirtschafts- und Nationalliberalismus à la Westerwelle wenig anfangen können. Andere wollen Sicherheit im Wandel, aber nicht die Zugeständnisse der SPD an die Endmoränen der alten Arbeiterbewegung. Es soll sogar Konservative geben im Lande, die sich gegenwärtig politisch und intellektuell irgendwie unterfordert fühlen.

Gewiss, um neue Ideen zu formulieren und damit Wähler erreichen, die man nicht schon vom letzten Schlussverkauf her ganz gut kennt, muss man Mut und Lust zum Risiko haben – eine Haltung übrigens, die vielen jungen Wählern durchaus vertraut ist. Am Ende stünde jedoch eine andere Anmutung der grünen Partei. Eines scheint sicher: Eine griesgrämige Formation, lustfeindlich und zukunftsscheu, reflexartig zuallererst immer an Verbote denkend, Welt und Wandel wie schwäbische Pietisten als Jammertal beklagend, eine solche Partei dürfte bald in Frieden unter dem Fünf-Prozent-Marmor ruhen. Zu Recht und Gott sei Dank.

Am Rande jederBewegung oder Partei steht ein Teil, der nichtpolitik- undkompromissfähig ist

Wer aber soll sie zu neuem Leben erwecken? Fischer, Kuhn, Künast halten jeden Vergleich mit dem Personal anderer Parteien aus – und dies umso mehr und umso wählerwirksamer, je offener sie aussprechen, was notwendig wäre (auch auf die Gefahr hin, manche Seelen zu verletzen). Bleibt die wirklich offene Frage: Wie soll das geschehen? Basisdemokraten lieben keine Putsche. Wie aber darf man nennen, was Toni Blair, Gerhard Schröder, Franz Müntefering mit ihren Parteien gemacht haben? Es war, alles in allem, ein bewusster und gewollter Abschied von den Anfängen, eine Entmachtung auch der alten Milieus und Methoden. Man muss New Labour nicht lieben. Es gibt viel zu kritisieren. Aber von Old Labour redet heute zu Recht niemand mehr. Keiner aber wäre bei dieser Reform auf die Idee gekommen, im Ortsverein anzufangen und, wie es im Buche der Gremiendemokratie steht, weiterzumachen.

Am Abend des 25. März gab es zwei Prognosen für die Grünen: Partei einer Generation bleiben oder eine gute Zukunft. Beides ist drin. Die Themen sind da, die Wähler auch. Aber wo sind die Grünen? WARNFRIED DETTLING