Castorfs Director's Cut

In Zürich gerät Volksbühnen-Chef Frank Castorf Döblins „Berlin Alexanderplatz“ zur fünfstündigen Langversion, angesiedelt irgendwo zwischen Bavaria Studio Action und üblichem Theorieverdacht

von TOBI MÜLLER

Phrasen beim Wort zu nehmen, das ist ein alter Theaterspaß. Sagt man episch, ist „breit“ nicht weit. Und breiter als Bert Neumanns Bühne in diesem Zürcher „Berlin Alexanderplatz“ in der um 90 Grad gedrehten Schiffbauhalle war noch keine Filmleinwand. Der Berliner Volksbühnen-Chef und selbst ernannte Ost-Querulant Frank Castorf nimmt sich Alfred Döblins epischen Romans (1929) an, bedient sich bei Lothar Trolles Dramatisierung und macht natürlich doch, was er will.

Bretterwände gehen in einen doppelstöckigen Wohncontainer über; ein neonheller Stehausschank mit Plastikstühlen in hundertfachem Blinklicht markiert die Mitte. Manchmal scheint es blau aus den lumpenproletarisch bewohnten TV-Höhlen. Rainer Werner Fassbinders etwas milieuverliebter, ansonsten aber kongenialer Fernseh-Dreizehnteiler (1980) flackert farblich mit, auch die sehr nasse, spiegelnde Straße aus Gummi vor der Zuschauertribüne lässt früh jene Sorte Action ahnen, wie sie die Bavaria-Filmstudios Touristen anbieten. Frank Castorf, der das geografisch wie sozial periphere Berlin – nicht Mitte wie bei Döblin, eher Lichtenberg oder Neukölln – ins befreundete Marthaler-Haus nach Zürich bringt, denkt die Touristik natürlich mit, in bester postsozialistischer, also charmanter bis gleichgültiger Manier. Weil ihm diese Arbeit, nimmt man die Phrase erneut beim Wort, so lang wie breit scheint. An der Premiere zumindest fünfeinhalb Stunden lang. Am Schluss, um ein Uhr früh, ist die Verärgerung über den Director's Cut als zusehends hingerotzten Longplayer nicht zu leugnen.

Am Anfang wird allerdings nicht lange gefackelt. Wenn Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel nach vier Jahren wegen Totschlags verlässt, entgehen Castorf und Co der Kitschfalle gänzlich. Max Hopps Biberkopf tigert gleich die Horizontale rauf und runter. Hier hat's einer pressant, ein anständiger Mensch zu werden. Und daher weiß der in Zürich entworfene Franz viel schneller als der Döblinsche, dass sein Spielraum, wiewohl örtlich groß, sozial und psychisch eng begrenzt sein wird: „I'm deranged“, grölt er mit David Bowie.

Später wiederholen die Russinnen – die obligat freizügigen Nichtschauspielerinnen Rosa Galina und Ludmilla Skripkina als sperrige Realitätseinsprengsel – ein Stigma, wovon nur noch das überdies fehlerhafte Zeichen überlebt hat: „Lude, er ist Lude!“ Biberkopf, der eben noch der ersten Reihe einen Schlipshalter verkaufte und gegen jüdische Kaufhäuser wetterte, als Jude im erneut fühlbaren Klima des Hasses? Viel später sagt der falsche Freund Reinhold (ein wunderbar kindlich gewalttätiger Marc Hosemann), was wohl gemeint sein könnte: „Ich habe gerade eben die Objektbezogenheit meines Hasses verloren.“ Jude, Lude: who cares, Hauptsache Hass. Hier ist er nun, der berühmte Regie-Berserker, wie er redet und abbildet. Kraft durch „ehrlichen“ Zynismus, nicht durch humanistische Verzärtelung.

Man trägt weiterhin grässliche Proletenkleidung (Bert Neumann) und trifft sich zum Saufen in der Bar, der Soundtrack in Wort und Ton gefällt und knallt. Fast alle der physisch meist an den Grenzen lavierenden Schauspieler und Schauspielerinnen haben ihre Glanzmomente, wie sie in dieser Vehemenz nur bei Castorf möglich scheinen. Iris Minich, als die frühe Freundin Lina, gondelt mit einem kaputten Fahrrad (einer Marke übrigens, die in Gefängnissen hergestellt wird) über die nasse Straße, Franz lässt sich ziehen: eine schaurig schöne Schlitterpartie in Cinemascope. Der butterzarte wie bedrohlich tief tönende Josef Ostendorf als Ganovenboss Pums darf in einem Einschub über ein Berliner Theater wettern, das eine Komödie mit „anmutigem Humor und tieferem Sinn“ verschränken will, bis die Bude kracht. Und zweimal rollt stinkend und waghalsig manövriert ein richtiges Auto in die Halle. Ueli Jäggi wechselt in Echtzeit ein Rad, während Reinhold sich an Franzens „Mieze“ (wie immer virtuos dauertorkelnd: Bibiana Beglau) heranmacht.

Obwohl diese Nacht einen Plan erkennen lässt – nach der Pause ziehen sich die Klassenlosen vermehrt in ihre Container zurück: da halten sie wenigstens still –, dem Schauspieler-Entfessler Castorf müssen hier seine anarchischen Freiräume auch als Mängel ausgelegt werden. Zu durchsichtig wird die Verdammnis heruntergerissen. Das sieht zu schnell gemacht aus, dauert ewig lang und lässt erschöpft rudernde Schauspieler zurück, die mehr Aufmerksamkeit seitens der Regie verdient hätten. Mittelmäßig ist stets das falsche Wort für das unbändige Castorf-Theater, schlampig bleibt aber irgendwann schlampig. Im schmucken Zürich genau so wie im romantisiert harten Berlin, wo die Volksbühnen-Belegschaft diesen Marathon im Repertoire notabene kaum je mitgemacht hätte.