Spurensuche mit Erfolg

■ Der Bremer Professor Jörg Wollenberg untersuchte die NS-Geschichte seines Geburtsortes Ahrensbök und stieß auf viele Details. Ein Buchhinweis von Peter Dahl

Einer kommt zurück in die Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, gräbt in der Geschichte seines Städtchens während der Jahre des Nationalsozialismus, stößt auf Erinnerungen, Erinnerungslücken, Verdrängtes und Verschwiegenes und befindet sich plötzlich mitten in Deutschland: bei der Schwierigkeit, zwischen Opfern und Tätern zu unterscheiden. Dabei herausgekommen ist ein Buch und einiges mehr.

Das Buch „Ahrensbök – Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus“ von Jörg Wollenberg enthält auf Seite 33 ein Foto des Autors. Der ist heute Historiker und Professor im Bereich Erwachsenenbildung an der Bremer Universität. Auf dem Foto ist er als Vierjähriger zu sehen, zusammen mit seinen Geschwistern und der polnischen Hausgehilfin Wanda Bankowska, einer Zwangsarbeiterin. In Ahrensbök, einem beschaulichen Landstädtchen nördlich von Lübeck mit rund 5.000 Einwohnern, schufteten während des Krieges etwa 1.300 „Fremdarbeiter“, dazu noch einige hundert Kriegsgefangene, erfährt man. Sie hielten die Rüstungsproduktion aufrecht und sicherten die bis 1944 vergleichsweise gute Versorgung der deutschen Bevölkerung.

Ein anderes Beispiel für nationalsozialistisch organisierte Arbeit in Ahrensbök bildet das dortige Konzentrationslager. Dieses Lager, im März 1933 eingerichtet und von Anfang an und offiziell Konzentrationslager genannt, gehört zu den ersten; vorwiegend wurden dort Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und oppositionelle Nationalsozialisten eigesperrt. Es war so etwas wie das persönliche Eigentum des Regierungspräsidenten und SA-Führers Böhmcker, der besser betuchten Insassen gelegentlich auch „Lösegeld“ zugunsten seiner persönlichen Schatulle abpresste. Dieses Ahrensböker Lager wurde bereits im Mai 1934 wieder aufgelöst; mit den Lagern hatten die Nazis Größeres vor, bis sie die KZ schließlich zur industriellen Tötungsmaschinerie ausbauten. – Und keiner hat was gewusst? Wollenberg geht dem in einem Kapitel über die Berichterstattung in den regionalen Zeitungen nach. Ergebnis: Die Berichte waren tendenziös und beschönigend, aber es gab sie regelmäßig.

Noch einmal kamen Gefangene aus Konzentrationslagern nach Ahrensbök, am Ende des verlorenen Krieges, als die Lager im Osten aufgelöst und die Häftlinge auf einen verlustreichen Marsch nach Westen geschickt wurden. Im Januar 1945 begaben sich etwa tausend Gefangene des Lagers Auschwitz-Fürstengrube auf den Weg, etwa 500 von ihnen erreichten im April Ahrensbök. Am Straßenrand stand Jörg Wollenberg, damals acht Jahre alt. Er erinnert sich: „Ich war Augenzeuge dieses Elendszuges. Ausgemergelte Gestalten schleppten sich mühsam vorwärts. Noch auf dem Weg von Lübeck über Curau nach Ahrensbök waren Häftlinge erschossen worden.“

Die meisten der Gefangenen aber wurden auf die „Cap Arcona“ gebracht, ein ehemaliges „Kraft durch Freude“-Schiff, das manövrierunfähig in der Lübecker Bucht lag. Am 3. Mai griffen britische Flugzeuge die „Cap Arcona“ und andere mit KZ-Häftlingen vollgestopfte Schiffe an. Von den mehr als 7.500 Gefangenen auf der „Cap Arcona“ konnten sich weniger als 350 retten und ans Ufer schwimmen.

Das Buch enthält Berichte von Überlebenden des Marsches von Auschwitz nach Ahrensbök, beispielsweise von Harry Hermann Spitz, der die Lagerkapelle in Auschwitz-Fürstengrube leitete und später Musikchef des Nordwestdeutschen Rundfunks wurde, oder von Jan-Kurt Behr, Klavierspieler in dieser Lagerkapelle und nach dem Krieg Dirigent an der Metropolitan Opera in New York. Und da sind die Berichte des Lagerleiters und des Lagerältesten von Auschwitz-Fürstengrube. Der eine, Max Schmidt, war SS-Obersturmführer, stammt von einem Bauernhof bei Ahrensbök und lebt heute noch dort. Der andere, Hermann Joseph, war als Sozialdemokrat verhaftet worden, wurde im Lager der oberste Funktionshäftling und war nach dem Krieg Architekt und SPD-Stadtrat in Nürnberg. Später wurden gegen beide Prozesse geführt. Der ehemalige Häftling Joseph wurde verurteilt, weil er Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge begangen habe; das Verfahren gegen den früheren SS-Offizier wurde eingestellt, nicht zuletzt, weil einige „seiner“ Häftlinge für ihn ausgesagt hatten.

Alltag im Nationalsozialismus, das bedeutet auch die Allgegenwart von Demagogie und: Alles hängt mit allem zusammen. Der Umstand, dass Jörg Wollenberg letztere Tatsache besonders am Herzen liegt, macht sein Buch (vorsichtig gesagt) ein wenig unübersichtlich. Da schickt der Forscher seine Leser sozusagen auf Forschungsreise durch 271 Druckseiten samt Verweisen und Exkursen – was aber nicht unbedingt schlecht ist. Schließlich war es eine Hauptabsicht des Autors, „die Bürgerinitiative mit der Vorlage neuer Dokumente und Beschreibungen zu stützen“, auch damit das letzte KZ-Gebäude ein Lern- und Erinnerungsort wird. Das könnte gelingen.

Jörg Wollenberg: Ahrensbök – Eine Kleinstadt im Nationalsozialimus. Mit Beiträgen von Norbert Fick und Lawrence D. Stokes. Edition Temmen, 271 Seiten, 39,90 Mark.