Der Todeshauch des Fetts

Wahre Lokale (65): Das atemberaubende „Fleischhaus“ in Berlin-Kreuzberg

Auf Höhe des Friedhofs spürt man ihn dann auch schon, den Atem des „Dietrich Herz“

Die Lean Cuisine ist entdeckt worden. Der Fettabscheider wurde entwickelt. Die Dunstabzugshaube erfunden. Wo liegt also das Problem? Unter einer Frittenduftglocke am Kreuzberger Marheineke-Platz jedenfalls liegt das „Fleischhaus“. Die Lage ist ja erst mal dufte. Vom Südstern kommend, spaziert man über die Bergmannstraße an einem riesigen Friedhofsgelände vorbei. Neulich musste ein Freund hier nachts in aller Stille seinen angegammelten Kater beerdigen, nachdem er ihn über mehrere Tage lang ratlos im Kühlschrank zwischengelagert hatte. Die anschließende Trauerfeier fand gegen vier Uhr morgens in seiner Wohnung statt. Das „Fleischhaus“ – obgleich geeignet für kollektive Festivitäten aller Art – hatte um diese Zeit leider schon geschlossen.

Auf Höhe des Friedhofs spürt man ihn dann auch schon, den Todeshauch des Fetts, den Atem des „Dietrich Herz“, wie das „Fleischhaus“ mit bürgerlichem Namen heißt. „Fleischhaus“ trifft die Sache aber besser, denn dies ist der wahrscheinlich letzte Ort in Europa, wo Tiere nach wie vor konsequent in nützliche Kalorien umgewandelt werden. Während es auf den Tellern der umliegenden Lokale immer luftiger zugeht und Obst- und Gemüse-Elemente dominieren, geben im rustikalen „Fleischhaus“ nach wie vor erdschwere beigefarbene Soßen sowie braune Schnitzel zu unglaublich niedrigen Preisen und in unfassbaren Ausdehnungen den Ton an.

Eine Einschränkung gibt es allerdings: Für Menschen mit Atemwegserkrankungen ist ein Aufenthalt wegen der hohen Konzentration von Nikotion, Alkohol und Fett in der Luft nicht zu überleben. Die Servicekräfte bemühen sich deshalb, die Verweildauer für die Gäste so kurz wie möglich zu halten. Karte bringen, Bestellung aufnehmen, servieren, bezahlen sind praktisch eins. „Bitte sehr.“ – „Danke schön.“ Aus eigener Erfahrung weiß ich nun, dass es auch ganz andere Kellnerinnen gibt. Frauen, denen das Wohlbefinden des Gastes völlig schnuppe ist. Zumeist sind es studentische Hilfskräfte, die übel riechende Mahlzeiten servieren, von denen sie sehr genau wissen, dass ihr Verzehr nicht folgenlos bleibt. Wobei diese Kräfte nicht selten von skrupellosen Wirten zu solchen Dingen gezwungen werden.

Berlin war noch eine gastronomische Servicewüste, als ich in einem Studentenlokal arbeitete. Jedenfalls behauptete der Inhaber, dass es eines sei. In Wahrheit handelte es sich um eine Eckkneipe, in die partout niemand reinwollte, schon gar keine Studenten. Und die einzige Person mit Immatrikulationsbescheinigung in diesem Laden stand abwechselnd hinterm Tresen oder in der Küche.

Es ging dieser Kneipe nicht gut und ihren Gästen auch nicht. Manchen wurde ziemlich schlecht. Zu meinen härtesten Aufgaben als studentische Servicekraft gehörte es nämlich, das so genannte „Gemüse der Saison“ zu servieren. So stand es auf der Karte und weckte je nach Jahreszeit Assoziationen an frischen Spargel oder leckeren Rosenkohl. Ganz Verwegene dachten auch an Trüffel. Zumindest stellten sich alle Gäste Dinge vor, die erstens gut aussahen und zweitens essbar waren. Und lagen damit ganz falsch. Die saisonale Beilage bestand im Winter wie im Sommer aus Gemüsezwiebeln. Sie sollten in feine Ringe geschnitten und zu einem hübschen Berg aufgeschichtet werden. Der Inhaber behauptete, es käme nur darauf an, die Zwiebeln „richtig zu verkaufen“. Das geschah buchstäblich unter Tränen. Meist ließen sich die Leute noch dazu überreden, mir den Teller mit dem Zwiebelhaufen nicht gleich ins Gesicht zu werfen, kein einziger jedoch dazu, das bizarre Arrangement zu essen und anschließend zu bezahlen. Ein letztes Bier schenkte ich dann bei Kerzenschein dem Mann von der Bewag aus, der schließlich ein Einsehen hatte und dem Zwiebelgewürge den Strom abdrehte.

Noch ein wenig atemberaubender als das Servieren von Zwiebeln in lichtlosen Eckkneipen stelle ich mir allerdings das Auftragen von gigantischen Fleischbergen im praktisch sauerstofffreien „Dietrich Herz“ vor. Studentische Hilfskräfte wären der Dramatik der Situation jedenfalls nicht gewachsen, aber das erfahrene Personal im „Fleischhaus“ verliert nie den Überblick. Atemstillstand an Tisch drei! Asthmaanfall auf Tresenhöhe! Blutdruckabfall nach Jägerschnitzelschock! Ein Lob der Kellnerinnen, die immer zur Stelle sind, wenn ein Gast mal wieder ins Koma zu fallen droht.

HEIKE RUNGE