: Die Tante des Übertreibers
Von seinem letzten Werk blieb nur der erste und letzte Satz, von seinen Reisen Notizblöcke und von seinen Freunden große Sätze: Eine Wiener Ausstellung zu Nachlass und Freunden Thomas Bernhards
von WENZEL MÜLLER
„Wenn wir einen tatsächlich nur seiner Arbeit lebenden, ja nur aus dieser Arbeit heraus existierenden Bruder als Internisten haben, entgehen wir im Laufe der Jahrzehnte Hunderten von Ärzten, zu welchen uns die Krankheit, die wir jetzt schon ein Vierteljahrhundert haben, naturgemäß rücksichtslos getrieben hätte, und wir wären ohne einen solchen Bruder als Internisten den zum Großteil ja doch immer wieder nur gemeinen und skrupellosen und stumpfsinnigen medizinischen Geschäftemachern sozusagen lebenslänglich mit Haut und Haaren ausgeliefert gewesen und ...“ Ohne den Satz hier in seiner ganzen Länge wiederzugeben, erkennen wir an dem unverwechselbarem Ton sofort seinen Urheber: Thomas Bernhard. Diese verspielt-umständliche Konstruktion, dieses apodiktische Urteil, diese lustvolle Übertreibung, dieses Spiel mit autobiografischen Details – mit diesen stilistischen Merkmalen hat sich der 1989 gestorbene österreichische Dichter in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Gibt es ein schöneres Kompliment für einen Autor, als dass er schon aufgrund eines winzigen Werkausschnitts sofort zu erkennen ist?
Dabei stammt das Zitat gar nicht aus einem veröffentlichten Buch. Es ist der Anfang aus Bernhards letztem in Angriff genommenen Roman mit dem Titel „Neufundland“, der allerdings nicht über den ersten und letzten Satz („... und starb neunundfünfzigjährig in Neufundland.“) gediehen ist. Das Fragment ist in Bernhards Nachlass gefunden worden, der seit zwei Jahren aufgearbeitet wird. Die Ausstellung „Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlass“ in der Österreichischen Nationalbibliothek präsentiert erstmals eine Art Zwischenbericht der bisherigen Forschungsarbeit.
Außerdem erfahren wir, dass der Autor zuletzt auch an dem Theaterstück „Die Gehörlosen“ gearbeitet hat. Es spielt im Wartezimmer eines Wiener Ohrenarztes. Bei diesem Stück brachte es Bernhard immerhin auf mehrere Seiten. Die Typoskriptseiten sind im Mittelgang der Ausstellung unter Glas ausgestellt. Hier ist des Autors Schaffen in chronologischer Abfolge wiedergegeben. Eine handschriftliche Korrektur zeigt, dass das Stück „Ein Fest für Boris“ ursprünglich „Die Jause“ heißen sollte.
Zu beiden Seiten dieser Mittelachse werden Bernhards zwei „Lebensmenschen“ gewürdigt. Ein Begriff, den der Autor selbst geprägt hat. Der eine Lebensmensch war sein Großvater, Johannes Freumbichler, ein recht erfolgloser Salzburger Schriftsteller, der seine Familie nicht ernähren konnte, aber nichtsdestotrotz als unumschränktes Familienoberhaupt herrschte. Die große Liebe zu seinem Großvater hat Bernhard in seinen autobiografischen Erzählungen verewigt. Darüber hinaus diente er ihm ganz sicher auch als Muster für die vielen glanzlos scheiternden Wissenschaftler und Künstler in seinen Werken. Bernhard schrieb vom Versagen seiner Protagonisten – und hatte damit selber großen Erfolg.
Freumbichler starb 1949. Bernhard erbte seine Schreibmaschine. Nun war es an ihm, in die Fußstapfen des Großvaters zu treten und dessen schriftstellerische Arbeit fortzusetzen. Bisher dachten wir immer, Bernhards Stil sei sein ureigenes Produkt, seine originäre, nach musikalischen Prinzipien aufgebaute Kunstsprache, nun sehen wir, dass sie sehr wohl so etwas wie einen realen Untergrund hat, nämlich die Sprache des Großvaters. Kostprobe aus Freumbichlers in der Ausstellung präsentierten Notizbüchern: „Für das Schöne, Gute, Einzige, das ein Mensch macht, haben die Menschen in ihrer tiefen Jämmerlichkeit nur bitteren Neid, ja Haß!! Das ist die Wahrheit!“ In Sachen Schimpfen und Niedermachen fand Bernhard in seinem Großvater offensichtlich einen großen Lehrmeister.
Nach dem Tod des Großvaters tritt ein neuer Lebensmensch in Bernhards Leben: die um 37 Jahre ältere Hedwig Stavianicek. Sie ist Witwe und Krankenschwester, der 19-jährige Bernhard lernt sie in der Lungenheilanstalt Grafenhof kennen, wo er mit dem Tod rang.
Sie unterstützt den jungen Dichter, moralisch und materiell. Er kann bei ihr im Wiener Nobelviertel Döbling wohnen, sie wird später bei ihm, dem inzwischen Arrivierten, in seinem oberösterreichischen Vierkanthof einziehen. Eine Lebensgemeinschaft, die über 34 Jahre hält. Sie machen viele gemeinsame Reisen, die nun – bisher eine Lücke in der Bernhardforschung – anhand der gefundenen Notizbücher genau rekonstruiert werden können.
„... Ich hatte ja meinen Lebensmenschen, ... meine Lebensfreundin, der ich nicht nur viel, sondern, offen gesagt, seit dem Augenblick, da sie vor über dreißig Jahren an meiner Seite aufgetaucht ist, mehr oder weniger alles verdanke.“ So setzt Bernhard der langjährigen Lebensgefährtin in „Wittgensteins Neffe“ ein literarisches Denkmal. 1984 stirbt die „Tante“, wie sie Bernhard auf seine liebevoll-spöttische Art gerne nannte. In das Grab von ihr und ihrem Mann lässt Bernhard sich 1989 auf dem Grinzinger Friedhof in Wien beisetzen.
„Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlass“. Camineum der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, bis 16. April. Danach wandert die Ausstellung weiter nach Linz, München, Berlin und Prag.
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