Die heiligen Idioten

DAS SCHLAGLOCH
von KLAUS KREIMEIER

Das künftige Problem der Partei? Dass sie weder die komplexe Welt noch sich selbst erklären kann

„Schon aus Trotz tut mir das nicht weh.“

Renate Künast auf die Frage, wie weh ihr die Proteste in Gorleben gegen die Grünen getan haben.

Noch immer sind die Grünen eine Partei, die in der Perfektionsmaschine, zu der sich die westlichen Demokratien entwickelt haben, nicht vorgesehen, d. h. a priori zum Scheitern verurteilt ist. Das wurde einige Jahre lang von ihrer Erfolgsgeschichte verdeckt. Sie erweckten den Anschein, als sei gegen eine Staatsdoktrin, die Politik als Management betreibt, ein anderes Politikverständnis durchzusetzen. Auf Parteitechnokraten mochten die Flügelkämpfe der frühen Jahre kindisch wirken. Doch jenseits der ideologischen Rauchvorhänge signalisierten sie die offenen Wunden der Gesellschaft. Und auch der schwierige Weg der „Realos“ an die Macht konnte nicht verschleiern, dass hier eine sonderbare Truppe politischer Illuminaten war – entschlossen, die Probleme des Gemeinwesens nicht zu verwalten, sondern sich an ihnen abzuquälen.

Während eine aufs Management reduzierte Politik unsere „immer komplexer werdende Wirklichkeit“ zur Phrase verwurstet hat, verkörperten sie die Grünen gruppendynamisch und in der eigenen Parteistruktur. Ihre internen Auseinandersetzungen machten Komplexität – ein Lernprozess für die Gesellschaft – zur Schmerzerfahrung. Gerade ihre Fehler machten deutlich, was Parteitagsbeschlüsse, Ausschusssitzungen und Parlamentsdebatten in der Regel zur Unkenntlichkeit verwischen: dass die rasanten Wandlungsprozesse weltweit Widersprüche hervorgetrieben haben, für die es faule Kompromisse, aber möglicherweise keine Lösungen gibt. Das Leiden an der Wirklichkeit – ein Erbe der untergegangenen politischen Linken – begründete für geraume Zeit die Faszination der grünen Partei. Es war abzusehen, dass ihr nie Mehrheiten folgen würden. Jetzt aber sieht es so aus, als laufe ihr auch die Minderheit davon.

Möglicherweise war der Kosovo-Parteitag vor zwei Jahren der Kraftakt, an dem sich die Partei verhoben hat. Dass die Anwendung von Waffengewalt moralisch verwerflich, in bestimmten konkreten Situationen jedoch moralisch notwendig ist – dieser Widerspruch, der die Grünen in der Frage der Nato-Einsätze gegen Milošević fast zerrissen hat, ist in der Tat schwer erträglich. Man kann nicht sagen, dass die Grünen vor zwei Jahren „eine gute Figur“ gemacht hätten, aber sie haben den Widerspruch samt der Qual, ihn auszuhalten, noch einmal zu ihrer höchsteigenen Sache gemacht. Für Parteitechnokraten, Wahlforscher und das Gros der Wähler, deren Leidensfähigkeit in der Regel begrenzt ist, war dies ein Graus. Doch die Partei als Ganzes ging noch einigermaßen heil aus dem Schlamassel hervor. Dem Außenminister gelang es sogar, die Diskrepanz authentisch zu verkörpern – und sie mit einiger Eleganz in eine staatstragende Haltung zu übersetzen.

Die Jahre der Regierungsbeteiligung haben die Fähigkeit der Grünen, sich an der Realität abzuarbeiten und daraus Politik zu machen, erschöpft. Noch sind Nuancen unüberhörbar. Renate Künast, die „schon aus Trotz“ keine Schmerzen empfinden will, wenn Atomkraftgegner im Wendland grüne Flugblätter zerreißen, unterdrückt den Schmerz und bekundet zugleich, dass sie ihn verdrängt. Ihr Trotz trotzt auch einem unerträglichen Antagonismus, der in diesem Fall den Namen „Atomkonsens“ trägt. Deutlich bleibt, dass sie ihn nicht verwinden kann.

Ganz anders liegt der Fall Jürgen Trittin. Seine Verachtung gegenüber den „Latschdemos“ von Gorleben ist weder staatstragend noch besonders elegant. Sie zeugt vielmehr von einer tief gehenden Verkennung der Problemlage, in die sich die Partei manövriert hat. Dass der Ausstieg aus der Kernkraft nur um den Preis einer Jahrzehnte währenden Bestandsgarantie für die AKW-Betreiber zu haben war, ist dabei nur die eine Seite des Desasters. Die andere ist, dass die Partei das Leiden am Widerspruch nicht mehr aushalten, ja am liebsten verbieten lassen will. Für beide Seiten des Problems steht Jürgen Trittin. Sein Job als grüner Umweltminister ist es, den „Konsens“ als taktisches Einlenken und strategischen Sieg zu verkaufen. Das macht er ganz gut. Seine Aufgabe als grüne Führungskraft wäre es, den Einspruch der Missvergnügten, also der Bürgerinitiativen, nicht nur zuzulassen, sondern auch als Aktivposten für eine neue Offensive in der Energiepolitik zu nutzen. Hier versagt er – und mit ihm der größere Teil des Führungscorps.

Ist das „Dilemma der Grünen“, über das jetzt jene politischen Kräfte höhnen, deren Energiepolitik die Grünen erst in ihr Dilemma getrieben hat, also ein Managementproblem? Ja, soweit auch der Umgang mit den eigenen Widersprüchen, nicht zuletzt das Verhältnis zu den eigenen gesellschaftlichen Wurzeln Managementqualitäten erfordert. Die grünen Führer haben gelernt, Kompromisse mit der Macht zu schließen. Aber auf diesem Weg ist ihnen die Fähigkeit abhanden gekommen, mit dem Milieu, dem sie entstammen, politisch auf Tuchfühlung zu bleiben. Der Hass der Wendländer auf die Partei, auf die sie einmal ihre Hoffnung setzten, ist ungerecht. Aber er hat reale Ursachen, die Claudia Roth nicht dadurch kaschieren kann, dass sie sich in einen Traktor setzt. Das ist allenfalls hastige Kosmetik für die Medien, die ein fehlendes Management nicht ersetzt.

Der Hass der Wendländer auf die Partei, auf die sie einmal ihre Hoffnungen setzten, ist ungerecht

Der Kern des Problems ist jedoch in tieferen Schichten angesiedelt. Den Grünen wird nicht nur ihre politische Herkunft zur Last – mit ihr empfinden sie auch die Komplexität der Wirklichkeit, also ihr ureigenes politisches Terrain, zunehmend als lästig. Widersprüchliche Sachlagen gelten als „schwer vermittelbar“. Wer sich mit Leidenschaft und Akribie auf sie einlässt, ist schnell als Idiot verschrieen, weil er sich den Wählermassen nicht verständlich machen kann. Einige Jahre lang profitierten die Grünen von ihrem Bonus, als heilige Idioten die politische Landschaft aufzumischen. Ihr interner Krach reflektierte meist ziemlich genau die Zuckungen im Nervensystem der Gesellschaft. Das kann sich auf die Dauer wohl keine Partei leisten – zumal dann nicht, wenn sie mitregieren will. Wer regieren und an der Macht bleiben will, setzt gnadenlos auf Komplexitätsreduktion. Übertragen auf die Energiepolitik heißt das: Es wird auf die bestehenden Verträge verwiesen, alles andere erklären die „Sachzwänge“. Die SACHZWÄNGE: Ohne dieses Stichwort kommt in der Maschinerie der auf Globalisierung getrimmten westlichen Demokratien kein Politiker mehr aus. Der Wähler schnappt es nur allzu gern auf – es enthebt ihn der Mühe, sich mit den Sachen und den Mechanismen zu befassen, die solche Zwänge produziert haben.

Der Weg der Grünen in die „Realpolitik“ genannte Normalität wäre banal, setzte der Widerstand im Wendland nicht dramatische Zeichen, die „Verrat“ schreien, während sich nur die Geschäftsgrundlagen verändern. Das größte Problem der Partei könnte noch werden, dass sie nicht nur die komplexe Welt, sondern sich selbst nicht mehr erklären kann. Das machte sie für die Wählermehrheit nicht gerade attraktiver. Und für ihre Stammkundschaft würde sie uninteressant.