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„Ich wollte das nicht“

Er ist nie durch aggressives Verhalten aufgefallen. Seine Lehrer beschreiben ihn als lernwillig und hilfsbereit. Seit Dezember ist Tung in Untersuchungshaft

aus Görlitz BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

„Normal“. „Ganz normal.“ Es sind immer wieder diese Worte, die der 15-jährige Tung verwendet. Wie geht es dir? „Mir geht’s normal.“ Wie gefällt dir Deutschland? „Ganz normal.“ Worüber redest du mit deinen Eltern, wenn sie dich besuchen? „Über normale Sachen.“

Dabei ist kaum etwas normal im Leben des Vietnamesen. Tung, der mit seinem dunkelblauen Nike-T-Shirt, den Turnschuhen und einer blauen Stoffhose mit aufgesetzten Taschen aussieht wie viele Jugendliche in seinem Alter, sitzt seit Dezember vergangenen Jahres in der Untersuchungshaftanstalt in Görlitz. Weil er einen 21-jährigen Rechten erstochen und einen 20-Jährigen mit einem Stich in den Bauch verletzt hat.

Was bringt einen Jungen, der zuvor nie durch aggressives Verhalten aufgefallen ist, zu einer solchen Tat? „Ich wollte zurückschlagen, nur zurückschlagen“, sagt er leise. In dem kleinen Besucherraum der Haftanstalt wirkt er verloren.

Tung hat sich Deutschland nicht ausgesucht. Er war nicht mal zwei Jahre alt, da ging seine Mutter als Vertragsarbeiterin in die ehemalige DDR, um in einer Schuhfabrik bei Bautzen an der Übererfüllung der Fünfjahrespläne mitzuhelfen. Wie viele andere Mütter nahm die Bauarbeiterin eine Trennung von ihrem Kind in Kauf, um die Familie zu Hause zu unterstützen.

Acht Jahre lang lagen über 8.000 Kilometer zwischen Tung, der mit seinem Vater, ebenfalls Bauarbeiter, in einem Stadtteil außerhalb von Hanoi lebte, und seiner Mutter im sächsischen Bernsdorf, einem 6.000 Einwohner zählenden Ort in der Nähe von Dresden. Vor fünf Jahren holte die Mutter ihren Sohn und ihren Mann nach. Die Mutter sagte Tung, dass Deutschland „gut“ ist, dass man dort „normal“ leben kann, dass die Leute „nett“ sind. „Ich dachte, man kann hier lernen, mit Freunden sprechen und Deutsch lernen“, erzählt Tung, der kaum mehr als einen Satz am Stück sagt. Weder auf Deutsch noch auf Vietnamesisch.

„Guten Tag“ und „Guten Abend“ waren die ersten Worte, die Tung in der fremden Sprache sagen konnte. Als er schildert, wie er zum ersten Mal in seinem Leben Schnee sah und Flocken auf seiner Hand zerschmelzen ließ, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Doch das verschwindet ebenso schnell, wie es gekommen ist.

„Schlechte Worte“

Nach kurzer Zeit in Bernsdorf merkte Tung, dass Deutschland viel fremder ist, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Dass nicht alle Menschen im Ort nett sind. „Jugendliche sehen mich an und sprechen schlechte Worte“, nennt er das.

Wie Wegweiser begleiteten ihn auf dem täglichen Gang zur Schule und nach Hause „Fidschi raus“-Rufe. Anfangs verstand er sie nicht. Als er seine Mutter fragte, was sie bedeuten, antwortete sie ihm, dass sie es nicht wisse. Bald merkte Tung, dass ihm seine Mutter etwas vormachte und dass auch seine Eltern regelmäßig von rechten Jugendlichen im Ort angemacht wurden. Nur: Sie ignorierten die Rufe und verlangten auch von ihm, nichts zu sehen, nichts zu hören und nichts zu sagen. Wenn er nach dem Grund fragte, bekam er stets zu hören: „Weil wir Ausländer sind.“ Bald hörte er auf, zu Hause davon zu erzählen.

Fünf Jahre lang verhielt sich Tung wie seine Eltern: unauffällig. Er hörte weg, wenn „schlechte Worte“ gerufen wurden. Von der Schule ging er nach Hause, aß, machte sauber, guckte Fernsehen, erledigte die Hausaufgaben. Manchmal spielte er auf der Gitarre. „Langsame, traurige Lieder auf Vietnamesisch“, wie er sagt. Freunde hatte er kaum. Sein bester Kumpel war ein russischer Aussiedler, mit dem er Deutsch lernte. Am Wochenende spielten sie oft Fußball. Obwohl Tung ein guter Spieler ist, wollte er in keinen Verein. „Weil ich Ausländer bin.“

Im Sommer 1998 ging sein Vater mit ihm in die alte Heimat zurück – für ein halbes Jahr. Es gab Probleme in der Beziehung der Eltern. Die Rückkehr nach Vietnam beschreibt Tung als „sehr gut“. Was ihm besonders gefallen hat? „Mit meinen Großeltern und Freunden zu sprechen.“ Was er ihnen über Deutschland erzählt hat? „Normal, nur lernen.“

Ein Jahr später reiste der Vater erneut mit ihm nach Vietnam, wieder für ein halbes Jahr. Zu dieser Zeit hatte Tung zwar noch immer Hemmungen, sich in Deutsch zu äußern, doch es war ihm längst keine fremde Sprache mehr. Lehrer attestierten ihm „größere Lernfortschritte im schriftlichen Bereich“ und beschrieben ihn als „lernwillig“, „höflich“, „hilfsbereit“ und „nie aggressiv“.

Bis auf einen nahen Verwandten weiß keiner der Familie in Vietnam, dass Tung jemanden erstochen hat und im Gefängnis sitzt. Zu groß ist die Scham der Eltern, weil sie ihrem Sohn doch immer gesagt haben: „In Deutschland hast du eine bessere Zukunft.“ Tung sagt mit leiser Stimme: „Ich wäre besser in Vietnam geblieben.“ Dann würde er nicht in der Untersuchungshaftanstalt in Görlitz sitzen, wo derzeit 276 Männer, die Hälfte von ihnen jünger als 21 Jahre, auf ihren Prozess warten. Tung ist froh, sich mit einem Landsmann, einem fünf Jahre älteren Vietnamesen, der wegen Schmuggel sitzt, eine Zelle zu teilen. „Wir verstehen uns ganz gut und reden über Vietnam“, sagt er. Aus der Gefängnisbibliothek hat er sich vietnamesische Bücher über die Geschichte seines Heimatlandes geholt.

„An diesem Tag konnte ich es nicht mehr aushalten“, sagt Tung über den 9. Dezember. Zusammen mit einem Freund der Eltern passte er auf den Stand auf dem Weihnachtsmarkt auf, an dem sie Kleidung und Glühwein verkauften. Kurze Zeit zuvor hatte der Weihnachtsmann über Mikrophon versucht, eine größere Gruppe rechter Jugendlicher, die herumpöbelten, zur Räson zu bringen. Die Pfarrerin von Bernsdorf erklärte später, dass die Stimmung „von Gewalt geprägt“ war.

Viel konnte der Weihnachtsmann nicht ausrichten. Drei rechte Jugendliche wählten sich den Stand von Tungs Eltern. Einen von ihnen kannte Tung vom Sehen. „Manchmal war er an der Schule und sagte schlechte Worte zu mir.“ Er war als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr eingeteilt, um an diesem Tag für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Stattdessen pöbelte er mit den anderen zwei, die dem Staatsschutz als zur lokalen rechten Szene zugehörig bekannt sind, zwanzig Minuten lang herum. Sie traktierten Tung mit Worten und Fäusten. Der eine, Matthias F., vorbestraft wegen gefährlicher Körperverletzung und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Rudolf Hess – Märtyrer für Deutschland“. Im Ort war Matthias F. bekannt als Rechter, aber auch als „feiner Kerl“, weil er akzeptierte, dass er solche T-Shirts auf dem Sportplatz nicht tragen durfte.

Der VW-Bus neben dem Stand von Tungs Eltern war den Rechten ein Dorn im Auge. „Wieso habt ihr so Autos?“, rief einer. „Wir als Arbeitslose können uns so was nicht leisten.“ Der Freund von Tungs Eltern, der deutschen Sprache nicht mächtig, fuhr den VW-Bus weg. „Einer fragte, ob ich illegal hier bin“, erzählt Tung weiter. „Ich sagte, ich bin nicht illegal, ich bin mit meinen Eltern hier.“ Offensichtlich unzufrieden mit der Antwort, beschimpften ihn die drei als „Arschloch“, schubsten und schlugen ihn. Als sie endlich weiterzogen, lief Tung die wenigen Meter nach Hause, holte zwei Küchenmesser und lief ihnen hinterher.

„Nur schlagen, zurückschlagen“

„Ich dachte, nur schlagen, zurückschlagen, das war alles“, sagt er und senkt seinen Blick. Ohne Vorwarnung stach er zu. Matthias F. starb an den Stichverletzungen und wurde wenige Tage später von Rechten wie ein Märtyrer zu Grabe getragen. Ein Zweiter kam schwer verletzt ins Krankenhaus. Bei einer Vernehmung sagte er: „Auch wenn ich aus heutiger Sicht sagen muss, dass es sicherlich ein Fehler war, den Vietnamesen in der Form zu belöffeln, ist es unerklärlich, wie er in dieser Art reagieren konnte.“ Der Dritte, der unverletzt blieb, sagte aus: „Ich wollte abhauen, weil mir mulmig war.“

Und Tung? „Ich wollte das nicht“, sagt er mit leiser Stimme. „Es ist einer gestorben, das war sehr schlecht.“ An jedem Abend schleicht sich die Frage in seine Zelle: „Was habe ich gemacht?“ Gern würde er vergessen, was passiert ist.

In Bernsdorf freut sich der Bürgermeister über die Normalität, die inzwischen wieder eingekehrt sei. An der Stelle, wo Matthias F. starb, werden keine rechten Insignien mehr hinterlassen. Tungs Eltern wohnen schon längst nicht mehr in der Kleinstadt. Trotzdem würde Tung gerne eines Tages zurückkehren, um seine wenigen Freunde zu sehen.

Der PDS-Stadträtin Hannelore Zuschke, die verstehen kann, dass Tung sich wehren wollte, wird bei der Vorstellung mulmig. „Es gibt Stimmen aus der rechten Ecke, die sagen, Tung soll sich hier nicht mehr blicken lassen.“

Die örtliche Polizei erklärte bereits kurz nach der Festnahme: „Wenn er zurückkommt, können wir für nichts garantieren.“

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