Geheimes Leben der Häuser

Von den Schrecken des sesshaften Lebens handeln Scott Bradfields Erzählungen. Heute Abend liest er im Literaturhaus  ■ Von Volker Hummel

„Amerika, das ist die Grenze, die niemals bezwungen wird. Amerika, das ist Bewegung. Amerika ist immer irgendwo anders.“ Der Erzähler von Scott Bradfields erstem Roman Die Geschichte der leuchtenden Bewegung weiß, wovon er spricht, schließlich bringt er die meiste Zeit seines Lebens auf dem Rücksitz eines Autos zu. Von dieser Position aus erscheint ihm Kalifornien als Paradies vorbeirauschender Farben, blinkender Leuchtreklamen, und ewig gleicher Vorortsiedlungen.

Dass Philipp Davis noch ein Kind ist, mindert keinesfalls die Sprachgewalt, mit der er die flüchtige Welt um ihn herum beschreibt. Solange seine Mutter am Steuer sitzt und sie in Bewegung bleiben, strömt die Sprache aus ihm hervor. Der Horror beginnt erst mit dem Stillstand. Ein Mann namens Pedro bietet Mutter und Sohn eine feste Bleibe. Doch die von der Mutter so sehr gewünschte Sesshaftigkeit bringt das innere Universum von Philipp zum Stillstand. Erst ein nicht näher beschriebener Gewaltakt setzt eine neue Flucht in Gang und stellt die ursprüngliche ödipale Einheit wieder her.

Lebt Bradfields Debütroman vor allem vom Wechsel zwischen Stillstand und Bewegung, so handeln die jetzt in Unzweifelhaft der Beste versammelten Erzählungen vom Grauen des in Häuser gebannten Daseins. Das geheime Leben der Häuser lautet der Titel einer Geschichte über das Mädchen Margaret, dessen Mutter ins Krankenhaus muss. Allein lebt sie nun in dem großen Anwesen, das sie in ständiger Bewegung wähnt, in unruhiger Verbindung mit der Erde, mit unterirdischen Kraftfeldern. Erst als Großtante Fergie erscheint, eine Erbschleicherin von Dickens'schem Format, verlieren die Räume ihr Eigenleben. Sie werden Margaret fremd, und selbst, als ihre Mutter wieder gesund wird, lebt sie mit ihr fortan wie in einem Totenhaus.

Man hat Scott Bradfield häufig als einen literarischen Vertreter des Realismus bezeichnet, als einen Nachfahren John Steinbecks, der sich der Verlierer des amerikanischen Traums annimmt. Doch was seine Figuren so faszinierend macht, ist ihre Verbundenheit mit höheren Mächten und Gewalten, eine spirituelle Wildheit, die sich nicht zivilisieren lässt. Gerade Kinderfiguren wie Philipp und Margaret zeichnen sich nicht durch realis-tische Schilderung aus, sondern durch eine Sprachgewalt, die von der Welt noch nicht domestiziert worden ist. Bei Bradfields Figuren hat man es mit Medien zu tun, die das im zivilisatorischen Prozess Verdrängte Sprache werden lassen. Am deutlichsten lässt sich Bradfields eigentümliche Poetik wohl an der Erzählung Der Traum vom Wolf ablesen. Hier ist es ein Familienvater, in dessen Leben unheimliche Bewegung kommt. Träume suchen Larry Chambers heim, in denen er zum Wolf wird und in grauer Vorzeit über karge Steppen jagt. Mal als Herdenmitglied, mal als Leitwolf, sieht Larry sich Fährten suchen, Beute reißen und läufige Wölfinnen besteigen.

Anfangs noch gelangweilt-amüsiert von Larrys Visionen, reagieren seine Frau und Kollegen zunehmend mit Unverständnis auf seinen schrittweisen Rückzug in die Welt der Wölfe.

Diese Entfremdungsprozesse sind eine Spezialität von Bradfield, das plötzliche Aufkündigen sozialer Bindungen, den Vertrauensverlust am Arbeitsplatz und im intims-ten Kreis beschreibt er mit Klarsicht und Unbarmherzigkeit, ohne seine Hauptfiguren bloßzustellen. Larrys Wolfsträume werden nicht als pathologische Halluzinationen eines überarbeiteten Angestellten dargestellt, sondern als Einbrüche des Archaischen in die Zivilisation.

Man kann diese in allen Geschichten variierte Rückkehr des Verdrängten durchaus als bissigen Kommentar zum amerikanischen Urmythos der immerwährenden Westwärtsbewegung verstehen. Das durch diese zivilisatorische Bewegung Ausgemerzte, Gerodete, Nivellierte und Getötete kehrt in Bradfields Prosa zurück und bricht in die kalifornischen Idyllen seiner Figuren ein. Hier im äußersten Westen, wo die Bewegung zum Stillstand gekommen ist, haben schließlich schon Thomas Pynchon (Vineland) und Denis Johnson (Schon tot) literarische Geisterbeschwörungen angesiedelt.

Bradfield hält nicht viel von solchen Traditionslinien. Als Gastprofessor leitete er jüngst ein Seminar mit dem Titel: Literature and Crap in American Pop Culture? What We Like To Read and What We're Supposed To. Konsequent übertrug er seine literarische Underdog-Perspektive auf die Literaturwissenschaft und versuchte, Bewegung in das System zu bringen. Why I Hate Toni Morrison's Beloved war denn auch der Titel eines von ihm gehaltenen Vortrags. Wer also bei der Lektüre von politisch korrekter Prosa schon immer ins Halbkoma gefallen ist, sollte sich heute auf den Weg ins Literaturhaus machen.

Scott Bradfield: „Unzweifelhaft der Beste“, Zürich 2001, 260 Seiten, 39,90 DM

Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus