Der Sieg der Knöpfe

Die Schriftstellerin Lena Kugler liest Freud, war lange lyrikkrank und hat gerade ihren ersten Roman veröffentlicht: „Wie viele Züge“. Heute liest sie beim Festival junger Berliner Autoren im Roten Salon

von PETRA WELZEL

„Hochgradig schriftstellerverseucht!“ Lena Kugler winkt mit dem Blick durch die Caféhaustür rüber auf den Spielplatz am Teutoburger Platz. Andere Eltern sorgen sich eher um Hundekot oder kontaminierten Sand. Aber nicht Lena Kugler. Sie weiß noch von anderen Künstlern zu berichten, die dort mit ihren Kindern zum Spielen hinkommen: argentinische Filmemacher, zum Beispiel. Sie selbst ist Schriftstellerin. Und Mutter. „Das ist manchmal ganz schön anstrengend.“

Nichts anderes möchte man vermuten, wenn man die kleine Person betrachtet, die nicht so recht weiß wohin mit ihren Händen. Sechsundzwanzig Jahre ist Lena Kugler alt und sie sieht aus wie ein Teenager. Dass sie raucht, passt auch. Allerdings würde keine Jugendliche ihr Gegenüber so höflich fragen, ob es störe, wenn sie sich eine Zigarette anzünde. Und auch kaum so gewandt über Sigmund Freud reden, dass man sich die Fremdwörter buchstabieren lassen muss.

„Neolamarckismus“ ist so ein Wort. Ausbildung vererbbarer Eigenschaften meint das. „Mein Mann ist Germanist und Biologe“, entschuldigt sich die junge Autorin, die noch richtige Germanistin werden will. Bei ihr und ihrem Mann sind solche fremden Wörter zu Hause. Wenn er über seiner Dissertation sitzt, und sie über Freuds „Der Mann Moses“ ihre Magisterarbeit schreibt. „Den Haushalt ignorieren wir beide, wehren nur das Chaos ab.“ Die Pflichten und Sorgen um Ruthi, die zweieinhalbjährige Tochter, teilen sie sich. Oft auf dem Spielplatz am Teutoburger Platz. Nur die Last der vererbten Vergangenheit trägt die Mutter allein. Das hat was mit dem Neolamarckismus zu tun. Und mit Freud. Und natürlich auch mit den Dingen, die Lena Kugler schreibt. Zum Beispiel in ihrer Kurzgeschichte „Herz unter Knöpfen“, die im letzten Jahr in der FAZ gedruckt wurde, oder in ihrem gerade veröffentlichten Roman „Wie viele Züge“. – „Die Figuren sind erfunden und ich bin nicht Jula, aber die Grundkonstellationen stimmen“, sagt Lena Kugler über ihr Buch und fasst dabei mit einer Hand nach ihrer Kaffeetasse und mit der anderen um ihren Hals.

Der Literaturbetrieb ist ihr noch fremd. Als ihr Verlag sie unlängst zu einem Essen mit Literaturredakteuren einlud, fühlte sie sich noch nie so fehl am Platz unter Leuten, die sich kannten, aber nicht sie. „Noch nicht einmal aus meinem Buch durfte ich lesen.“ Sprache, Wörter, die sind ihr vertraut. Knöpfe, jeder einzelne, weil sie Geschichten erzählen. Wie die eigene Geschichte von der nichtjüdischen deutschen Mutter und dem nichtdeutschen jüdischen Vater. Die Neolamarckisten behaupten, dass die traumatischen Erlebnisse der Holocaustopfer an die nächsten Generationen weitergegeben werden, ohne dass sie verbalisiert werden müssten.

In „Wie viele Züge“ reist die Hauptfigur Jula quer durch Russland auf der Suche nach der wahren Geschichte ihrer Herkunft, ihres Vaters. Lena Kuglers Großvater, ein deutscher Wehrmachtsangehöriger, starb, als sie zehn Jahre alt war. Seitdem gab man sich aufgeknöpft, wurde die Geschichte in der Familie thematisiert; seither folgt sie den Spuren ihrer jüdischen Vergangenheit, der ihres Vaters. Und so ist sie auch auf Freud gekommen und auf die Frage, ob die Psychoanalyse nur von einem „gottlosen Juden“ wie ihm erfunden werden konnte. Heute ist sich Lena Kugler sicher, dass die Freud’sche Psychoanalyse keine jüdische Wissenschaft ist.

Wenn man daraufhin ihren Roman noch einmal zur Hand nimmt, bekommt man eine Ahnung von den Gedanken und Überlegungen, die unter Lena Kuglers dunklem krausen Haar ihr (Un-)Wesen treiben. Wo man stellenweise glaubt, nicht mehr zu wissen, wo die Reise mit den vielen Zügen hingeht, steht plötzlich überall Endstation Sehnsucht. Sehnsucht nach Klärung. Aufklärung. Jula muss viele Züge besteigen, um zu erkennen, dass die Zeit der Kindheit, der Puppe, mit der sie sich ihr Wohnheimbett teilt, während ihre Kommilitoninnen sich in den kalten Winternächten längst schon an ihren russischen Freunden wärmen, vorbei ist, ihr ein alternder Maler den Vater nicht länger ersetzen kann.

Auch Lena Kugler hat etliche Stationen gemacht, bevor sie vor fünf Jahren in Berlin ankam und vor zwei Jahren begann, am Buch und an Erzählungen zu schreiben. Singen – „eine kleine hässliche Arbeiterstadt, dort wo Maggi steht“ –, Heidelberg, Köln, Konstanz. Geschrieben hat sie immer: „Früher viel Gedichte, bis ich akut lyrikkrank wurde.“ Eine neue Sprache wollte sie haben, wusste nur noch nicht, was sie erzählen wollte. Freud – „es gibt selten so gut und witzig erzählende Schriftsteller wie ihn“ –, Neolamarckismus und Knöpfe haben die Schreibblockade gelöst. Ihre Figuren nehmen Form an und bekommen Namen und Biografien. Das ist wie mit dem Spielplatz vor der Tür und den Kollegen: Von Ahne weiß sie, dass sein Sohn Oscar heißt und er demnächst sein erstes Buch veröffentlicht. Aus Namen werden Personen und Geschichten.

Abends findet die Journalistin auf dem Klo einer Bar einen Knopf aus schwarzem festen Flechtwerk. Den trägt sie jetzt in der Tasche mit sich rum und wartet noch darauf, dass er ihr (s)eine Geschichte erzählt.

Lena Kugler: „Wie viele Züge“, S. Fischer Verlag 2001. 24 DM.Lena Kugler liest heute um 20 Uhr beim Festival junger Berliner Autoren,Volksbühne, Roter Salon, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte