Die Last der vielen Bilder

Eigentlich sprach sie nur aus, was ihre Geschwister nicht auszusprechen wagten. Aber wardie hochkomplexe Ordnung ihrer Kleidung nicht das grelle Zeicheneines gestörten Hirnstoffwechsels? Ein Familienbericht über das Lebenmit der Diagnose „manisch-depressiv“

von CORNELIA KURTH

Oft schon hatte Katinka versucht, sich umzubringen, und so unglaublich es klingen mag, es gab Zeiten, da erzählte sie so komisch von diesen vergeblichen Selbstmordversuchen, dass wir darüber lachen mussten wie über eine wirklich komische Geschichte. Einmal wollte sie sich am Apfelbaum aufhängen. Sie hatte einen Hocker mit raus in den Garten genommen, aber trotzdem schaffte sie es einfach nicht, das Seil hoch genug über einen starken Ast zu werfen, und nahm also mit einem unteren Zweig vorlieb, der dann prompt abbrach, und da saß sie dann unter dem Apfelbaum, mit dem Strick um den Hals und dem abgebrochenen Ast neben sich, den sie wenig später beschämt auf den Komposthaufen zog. Wir lachten über diese Geschichte, wie man vielleicht im Nachhinein über tragikomisch fehlgeschlagene Unternehmungen in Zeiten heftiger Verliebtheit lacht.

Dreißig Jahre alt war Katinka, als sie an einem wunderschönen Frühsommertag im nahen Wald dann doch einen geeigneten Baum fand. Zehn Jahre hatte sie mit ihrer Krankheit gelebt. Sie sah immer sehr jung und sehr schön aus, und lange schien es, als würde sie niemals älter als gerade zwanzig Jahre sein. Als würde sie immer so alt bleiben, wie sie damals war, als wir alle begriffen, dass etwas Schreckliches passiert.

Ich verstand es erst richtig, als ich nach längerer Abwesenheit zusammen mit anderen Geschwistern zwei Wochen der Semesterferien bei meinen Eltern verbrachte, auf einem Gutshof mitten im Wald, den wir alle schon verlassen hatten außer der jüngsten Schwester, die noch zur Schule ging, und Katinka, die ihre Schule aufgegeben und wieder in das abgelegene Zuhause zurückgekehrt war.

Sie bewohnte mein ehemaliges Zimmer ganz am Ende des lang gestreckten Hauses, und im ersten Moment gefiel mir, was sie daraus gemacht hatte: eine Art Beduinenzelt, in dem bunte Tücher die Wände schmückten und Decken, Kissen und Schaffelle auf dem Boden lagen. Viele, viele Bilder hatte sie an den Tüchern befestigt und auch Blumen, viele kleine Dinge standen und lagen überall kunstvoll angeordnet herum, und begeistert erklärte sie mir, wie alle diese Dinge in Beziehung zueinander stünden.

Stunden verbrachte sie in diesem Zimmer, in dem Kerzen und Räucherstäbchen brannten, in dem ein stummer Fernseher lief, dessen Bilder von Radiomusik kommentiert wurden. Höchst fantastisch gekleidet, mit einem Turban auf dem Kopf und zwei bunten Röcken übereinander, darunter eine sorgfältig ausgesuchte Strumpfhose und zwei Paar farblich passende Socken, und mit verschiedenen T-Shirts und Blusen, über die sie sich kreuz und quer Tücher gebunden hatte, so also saß sie auf ihrem flachen Bett und besprach Kassetten, die sie uns später vorspielte und von denen man kein Wort verstand.

Sie schlief nicht, sie aß nicht, sie redete ununterbrochen, wenn nicht mit uns, dann mit dem Kassettenrecorder. Sie geisterte nachts durch die Wohnung, um noch mehr Kerzen zu besorgen und zwei weitere Radios und Krimskrams, den sie brauchte, um ihr Zimmer zu vervollkommnen. Wenn jemand ihr dazwischenredete, wurde sie schrecklich wütend und fand für jeden von uns genau die Worte, die treffen mussten. Manchmal stand sie im Wohnzimmer an den Kamin gelehnt, mit großen, glänzenden Augen, selbstsicher, fast höhnisch überlegen lächelnd, und stritt sich mit unseren Eltern auf eine Weise, der wir anderen Geschwister eigenartig fasziniert zuhörten, denn ohne Scheu oder Furcht warf sie ihnen all die Dinge vor, die Kinder ihren Eltern vorzuwerfen haben und die sie ihnen doch nur selten an den Kopf werfen, aus Angst, dass dann vielleicht alles zerbricht.

Stundenlang habe ich nachts in ihrem märchenhaften Zimmer gesessen und zugehört, wie sie aufgeregt über die Verbesserungsbedürftigkeit der Welt redete, so viel und so lange, dass ihr der weiß trocknende Speichel in den Mundwinkeln stand. Sie war verzweifelt, ohne es zu wissen. Später sprach sie sogar davon, dass sie selbst es sei, die das Böse in die Welt gebracht und die schlimmste Schuld auf sich geladen habe. Noch aber war sie die fanatische Weltverbesserin, die die wichtigsten Nachrichten von allen Sendern gleichzeitig empfangen musste, um sie zu mit Musik zu neuen Nachrichten zu vermischen – mit ihrer eigenen, immer heiserer werdenden Stimme.

Längst war die hochkomplizierte Ordnung ihres Beduinenzelts in sich zusammengebrochen: Die Decken und Kissen verwurstelt und von Saft und Zigarettenasche verschmutzt, die Tücher unter der Last der ihnen aufgebürdeten Bilder und Zettel halb von der Wand heruntergerissen, der Fernseher hatte seinen Geist aufgegeben und rauschte nur noch mit grauweißen Streifen, und Katinka fand nicht genug saubere Wäsche, um die ausgeklügelte Farbenkomposition ihrer übereinander gezogenen Kleidung zu retten. Manchmal fielen ihr für Minuten die Augen zu, und dann löschte ich die gefährlichen Kerzen und legte die durchgedrehte kleine Schwester vorsichtig auf ihr Bett, aber schon schreckte sie wieder hoch, zitternd, mit trockenen Lippen, raue Worte stammelnd, schreiend, totenbleich.

Und wir anderen hielten Kriegsrat im Wohnzimmer. Auch wir waren bleich, und unsere Worte klangen aufgeregt, denn wenn es auch offensichtlich war, dass es sich bei Katinkas Zustand längst nicht mehr um eine altersbedingte Gefühlsverwirrung handelte: Was sollten wir tun? Würde es vorbeigehen, wie ihre vorherigen Krisen? Brauchte sie nicht dringend ärztliche Hilfe, eine andere Art Hilfe, als sie der Hausarzt ihr bieten konnte? Psychiatrie, das Schreckenswort, nicht nur für meine Eltern, auch für uns, denn: Hatte unsere Schwester nicht Recht mit den Dingen, die sie so heftig ansprach? Durfte man sie dafür in das Gefängnis Psychiatrie schicken?

So viele vorher unaussprechbare Familiendinge kamen in diesen Tagen (und in den Jahren danach) auf den Tisch, Vorwürfe auch an die Eltern, bittere Vorwürfe, die nur ein Vorgeschmack waren von den typischen Vorwürfen, denen die beiden später, wie die meisten Eltern psychisch kranker Kinder, seitens vieler Ärzten ausgesetzt waren. In unserer Runde trugen wir die Psychiatriediskussion aus, von der wir noch nicht ahnten, dass sie zahllose Bände füllt: Ist die Familie schuld, wenn jemand durchdreht, oder ist es ein entgleister Hirnstoffwechsel? Soll man die Betroffenen mit Medikamenten ruhig stellen oder sie ihre Erkenntnisse ausleben lassen? Ist die Psychiatrie eine echte Hilfe oder eine Verwahranstalt für Andersdenkende? Dürfen wir unsere Schwester abschieben auf das Gleis Verrücktheit, oder müssen wir auf andere Weise Verantwortung übernehmen für ihren Zustand, der uns alle betrifft? Und: Bringt Katinka vielleicht das Opfer dafür, dass wir anderen miteinander reden und zusammenstehen wie niemals zuvor?

Schließlich war sie selbst es, die ankam, wunderschön und völlig abgedreht zugleich, in einem Aufzug, der selbst als Faschingskostüm übertrieben gewirkt hätte, und sagte: „Ich kann nicht mehr, bringt mich, wohin ihr wollt!“

Mein Bruder, meine Eltern und ich fuhren mit Katinka in die Psychiatrische Klinik Hamburg-Eppendorf. Im Zimmer des Arztes hing ein riesengroßes Poster vom alten, weisen Sigmund Freud. Das hatte etwas Beruhigendes.

Sie behielten Katinka gleich da. Und unsere Schwester, mit ihrem Turban und den bunten Tüchern, in die sie sich gewickelt hatte, schmal, bleich, hellwach-todmüde, winkte sanft, als wir uns vorläufig von ihr verabschiedeten, und in meiner Erinnerung ist das Lächeln, das sie lächelte, so kindlich-überlegen wie dasjenige, das auf ihrem Gesicht lag, als sie tot war.

Zehn Jahre lagen zwischen diesem Beginn und dem wunderschönen Frühsommertag, als sie ruhig zu meiner Mutter sagte, sie wolle nur einen kleinen Spaziergang machen. Am Morgen hatte sie noch einen Kuchen gebacken und einen liebevollen Brief an einen kranken Freund angefangen, in dem sie ihm Mut zusprach und von sich selbst schrieb: „Mir geht es eigentlich sehr gut.“ Und, das will ich in diesem schnellen Bildausschnitt nicht vergessen: Oft in diesen zehn Jahren ging es ihr gut. Mehr als einmal sagte sie: „Ich bin so glücklich, ich bin wieder gesund!“

„Sie hat wie eine Löwin um ihr Leben gekämpft“, sagt meine Mutter, die ebenfalls wie eine Löwin um ihr Kind gekämpft und immer wieder versucht hat, mit Ruhe und klarer Liebe ein Gegengewicht zu bieten zur Krankheit mit der Bezeichnung „manisch-depressiv“.

Katinka verzichtete auf die Euphorie der Manie und nahm in Kauf, dass die Medikamente, die ihr halfen, nur noch Anfälle allertiefster Depression übrig ließen. Sie war so oft in der Psychiatrie, aber sie kam auch immer wieder raus, ruhiger, gereifter. Sie machte ihr Abitur nach (und kam wieder ins Krankenhaus). Sie begann eine Lehre (und kam wieder ins Krankenhaus). Sie zog nach Berlin (und kam wieder zurück). Sie gewann einen Freund (und verlor ihn wieder). Sie studierte (und kam wieder ins Krankenhaus). Sie musste die grausamsten Dinge über sich selbst denken, und ich erinnere mich gut, wie sie in einem Eiscafé arbeitete, fleißig und gut; und doch, kaum dass sie mich sah, weinte sie und sagte: „Ich bin der schlechteste, böseste Mensch. Ich muss mich umbringen, um die Welt zu retten, aber ich bin zu feige dazu, denn dann erwartet mich die ewige Hölle!“

Sie malte Bilder. Wunderschöne, märchenhafte Bilder, die nur auf den zweiten Blick ahnen ließen, was für ein Kampf sich in ihrer Seele abspielte, und die so tröstlich waren wie viele Gespräche mit ihr, in denen sie immer wieder eine einfühlsame und lebenserfahrene Freundin sein konnte. Alle, die sie kannten, denken an sie wie an einen guten, aber verlorenen Geist. In ihren Grabstein ist ein Engel eingemeißelt, der mit einem geheimnisvoll überlegenem Lächeln drei Drachen überfliegt, die ihm zutraulich folgen.

Bei unserem letzten Gespräch fragte sie mich, ob ich glaube, dass Verbrecher wie Adolf Hitler in einem ewigen Gericht sühnen müssen. Ich sagte: Nein, im Tod sind alle Menschen gleich.

In diesem Frühsommer lasen wir uns Astrid Lindgrens Geschichte von den „Brüdern Löwenherz“ vor, Katinkas Lieblingsbuch. Am Ende des Buches springen die Brüder auf der Flucht vor dem Bösen in einen tödlich tiefen Abgrund, und in diesem Märchen ist es der Sprung in ein neues Leben. Wir alle, die Eltern und die längst ganz und gar erwachsenen Geschwister, wir hoffen, dass Katinka sich in ihrer Fantasie nicht einem strengen Gericht stellen wollte, als sie sich aufmachte in den Wald, wo der Baum mit einem starken Ast schon ausgewählt war und der Strick schon bereitlag. Sondern dass sie an die Brüder Löwenherz dachte, für die der Sprung in den Tod der Beginn eines anderen Lebens ist. Vielleicht.

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln