eine woche im april
: Vielleicht ist das Thomasleben aufregender

Doppelgänger und Wehenkissen

Ich habe einen Doppelgänger. Anders lässt sich, was heute passiert ist, nicht erklären. Als ich am Morgen die Mailbox meines Handys abfrage, erhalte ich folgende Nachricht: „Guten Tag, hier ist das Sanitätshaus Geschwister-Scholl-Straße, die Strumpfhose und das Wehenkissen sind eingetroffen. Auf Wiederhören.“

Am Nachmittag kommt es zu einer zweiten Verwechslung. Ich will mit dem Bus zum Alexanderplatz fahren, sitze oben in der letzten Reihe und lese ein Buch, da steigt ein alter Mann ein. Keuchend kommt er die Treppe herauf, hält sich an einer Stange fest und schwankt, nachdem der Bus wieder angefahren ist, durch den schmalen Gang auf mich zu.

Eine Weile schaut er angestrengt zu mir herüber, dann setzt er sich neben mich, obwohl die anderen Plätze frei sind. „Hallo Thomas“, sagt er und nimmt seinen Hut ab. „Ich bin nicht Thomas“, sage ich, um jedes Missverständnis auszuräumen.

„Natürlich bist du Thomas“, sagt er, „lüg mich doch nicht an.“ Ich versichere ihm, dass ich nicht Thomas heiße und zeige ihm zum Beweis meinen Personalausweis. Jetzt ist er wirklich erstaunt und er blickt mich wieder lange an. Plötzlich fühle ich mich schuldig, obwohl ich nichts dafür kann, dass meine Eltern mir einen anderen Namen gegeben haben. Vielleicht leidet er an Alzheimer oder grauem Star. Vielleicht sucht er jemanden wie mich, einer, der ihm ähnlich sieht, und ihn an seine Jugend erinnert.

Für einen Moment stelle ich mir vor, Thomas zu sein. Ich fahre mit dem alten Mann durch Berlin, in einem Café gibt er mir ein Eis aus und später machen wir einen Spaziergang durch den Tiergarten. Er holt aus seinem Portemonnaie ein Familienfoto, darauf ist ein kleiner Junge abgebildet, schüchtern drückt er sich an die Mutter, und daneben steht der alte Mann, er ist viel jünger und hat noch dunkle, volle Haare. Sein Arm ruht auf meiner Schulter.

Die Vorstellung, in der Stadt lebt ein anderer Mensch, mit einer anderen Entwicklung, mit anderen Möglichkeiten, der mich, wenn es drauf ankommt, ersetzen könnte, irritiert mich. Was, wenn ich auf den Alten eingehe und die von ihm vorgegebene Rolle einnehme? Vielleicht ist dieses Thomasleben sogar aufregender, abwechslungsreicher als mein eigenes. Wenn er aber nun doch krank und verwirrt ist, und ich mich für ihn zum Affen mache, quer durch die Stadt fahre, das halbe Wochenende vergeude, nur um zu Hause bei ihm dem wirklichen Thomas zu begegnen, der schon auf seinen Vater wartet, was dann? Heißt es nicht, wer seinem Doppelgänger begegnet, der stirbt?

Am Alexanderplatz löse ich mich aus der Umarmung, wünsche dem alten Mann noch einen schönen Tag und steige aus. Zu meiner Überraschung bleibt er oben sitzen, rutscht auf meinen Platz hinüber, drückt die Nase ans Fenster und winkt mir zum Abschied freundlich zu.

JAN BRANDT

(wird fortgesetzt)