Das besessene Auge

Den Underdogs auf den Fersen: Leon Levinstein hat das Leben in New York fotografiert, ohne sich dabei auf eine Ästhetik der Straße festlegen zu lassen. Sein Werk wird nun in Aachen vorgestellt

von MAGDALENA KRÖNER

Er kriecht, hockt, rennt, dreht und wendet sich auf der Suche nach Motiven. Er ist der Schatten auf den sonnenhungrigen Leibern am Strand von Coney Island. Er ist der Kiesel, an dem die Massen Manhattans vorbeibranden wie das Meer. Leon Levinstein, der von 1910 bis 1988 lebte, ist einer der weniger bekannten Vertreter der Street Photography. Nun stellt das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum Levinsteins Werk erstmals in Deutschland vor.

In den 50er- und 60er-Jahren fotografierte Levinstein meist in New York, später auch in Europa und Indien. Arbeiter, Drogenabhängige, Kinder, Alte, Geisteskranke, verliebte Paare, Prostituierte – sie alle bewegten sich durch Levinsteins Bilder, ohne in irgendeiner Weise von ihnen berührt zu scheinen. Dabei umschiffte er jedoch stets die Klippen des Burlesken oder Voyeuristischen, die seine Motive nur zu leicht vorgeben konnten.

Ähnlich wie Lisette Model, deren Schüler er war, suchte er die Begegnung mit den Menschen, ohne ihnen aber jenen Sekundenbruchteil des Sammelns vor dem Auslösen zu gestatten, der eine Pose ermöglichte. Meist fotografierte Levinstein seine Objekte von der Seite, fing sie aus der Froschperspektive, im Vorbeigehen oder von hinten ein. Hier posiert niemand, die meisten haben wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass sie fotografiert wurden.

Den Underdogs auf den Fersen, hielt Levinstein sich nicht lange mit konzeptionellen Überlegungen auf. In manchen Aufnahmen sind die Menschen so nah, dass sie unscharf werden. Wie ein Getriebener unternahm Levinstein seine Streifzüge: Central Park, Times Square, Harlem, Lower East Side. Er suchte die Menschen bei Demonstrationen, auf Paraden, am Wochenende. Dabei stieß er immer wieder auf Extremsituationen, als spüre er sich selbst nur im Moment des Auslösens. Die Kamera wird zum sechsten Sinn, der alle anderen dominiert.

Tatsächlich schien Levinstein das Leben neben dem Fotografieren zu vernachlässigen – er wohnte in billigen Apartments, hatte kaum Freunde, keine Familie. Dennoch machte er seine „Obsession“, so der Titel der Ausstellung und einer gerade erschienenen Monografie, nie zur Profession. Levinsteins Fotografie scheint weder von wechselnden Erscheinungen des Zeitgeistes noch von künstlerischen Idealen beeinflusst zu sein. Sie folgt eher einer inneren Notwendigkeit. Daher haben seine Arbeiten auch wenig gemein mit dem ästhetischen Dokumentarismus eines Walker Evans, der die Ikonografie der Großstädte als sorgsam komponierte Sinfonie zum Klingen brachte. Gleichwohl fügen Levinsteins Fotos dem Bilderbuch „Amerika“ ein paar wesentliche, bislang wenig beachtete neue Seiten hinzu. Er schafft Einzelporträts, keine Typologien. Die Bilder streben auseinander, jedes in eine andere Richtung.

In keinem Moment scheint dieses Werk um einen Platz im fotografischen Olymp zu buhlen. Auch wenn sie der klassischen Street Photography in vielem zutiefst verwandt ist – Levinsteins Sicht der Dinge löste das zentrale Versprechen der New York School nicht ein. Sie pochte nicht auf ein kritisches, neues Bewusstsein, maßte sich nicht an, Gesellschaftskritik zu üben. Da ist keine Ironie, kein formaler Kniff, keine Strategie, die dem Betrachter als Anleitung zum Schauen an die Hand gegeben würde. Das macht die Intensität der Bilder zum Teil schwer erträglich.

Levinstein legte viel Wert auf die nachträgliche Bearbeitung seiner Bilder. So printete er seine Fotos stets in Schwarzweiß, auch Farbfilme, und rückte die Dinge, die ihm wichtig waren, in zum Teil drastischen Anschnitten ins Bild. Hängungen entwarf er in gezeichneten Schemata, deren Comiccharakter allein eine Ausstellung hätte tragen können. Doch in den großen Fotoschauen der Zeit ist seine Arbeit nur selten präsent.

Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach völliger Freiheit in seiner Arbeit und deren professioneller Anerkennung, bewirbt Levinstein sich viermal um das renommierte Guggenheim-Stipendium, bis er es 1975, mit 65 Jahren, endlich zugesprochen bekommt. Wenn es um die Vermarktung seiner Arbeit geht, scheitert Levinstein, der hauptberuflich als Grafikdesigner arbeitete, immer wieder an der Angst vor dem Erfolg. Er erscheint zu Meetings mit Agenten nicht, stellt sich bei der Präsentation seiner Arbeit in Ausstellungen wie der berühmten Fotoschau „Family of Man“ quer.

1980 hätte das Angebot des Kunsthändlers Harry Lunn, mit großzügiger finanzieller Unterstützung einen Fotoband zu produzieren, die Wende bringen können. Doch Levinstein sabotiert den Produktionsprozess. Er stellt überzogene Forderungen und retuschiert irgendwann seine Fotos, heimlich und ungekonnt, selbst. Schließlich wird das Projekt von der Kuratorin Helen Gee, die den Kontakt hergestellt hatte, und Lunn entnervt aufgegeben. Helen Gee behielt Recht: „Leon wird den Erfolg haben, den er sich zeitlebens gewünscht hat, wenn er nicht mehr da sein wird, um ihm im Weg zu stehen.“

„Obsession“. Bis 13. Mai im Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen. Eine Monografie ist bei Editions Léo Schéer erschienen, 98 DM.