eine woche im april
: Vielleicht hätte man ihn auffangen sollen

Menschen und Luftballons

In den Fenstern von Zahnarztpraxen hängen häufig aufblasbare Zähne, die mit Saugnäpfen am Glas befestigt sind. Mein Freund Stephan hat bei seiner letzten Untersuchung um eine dieser Dekorationen gebeten, als eine Art Entschädigung für seine Schmerzen. Er behauptet, die Zähne eignen sich hervorragend als Nackenstütze bei längeren Zugreisen.

Das ist die eine Geschichte. Die andere Geschichte ist, dass wir einmal in der Woche in einem französischen Imbiss an der Chausseestraße am Fenster stehen und bei günstiger Stellung der Vorhänge direkten Blick auf das Behandlungszimmer eines Zahnarztes haben. Auch in dieser Praxis finden sich aufblasbare Zähne an den Scheiben. Wir bestellen Lachsbaguette und Croissants und schauen Arzt und Patient beim Bohren zu.

Aber heute gibt es nicht viel zu sehen, meist steht eine der Arzthelferinnen im Weg oder ein vor der Ampel wartender Lastwagen versperrt die Sicht. Wir sind gerade mit dem Essen fertig und überlegen schon, woanders noch einen Kaffee zu trinken, da öffnet sich auf der anderen Straßenseite über dem Eingang eines Physikinstituts ein Fenster. Zwei Kinder kommen zum Vorschein. Eines von ihnen hält einen roten Luftballon in Händen. Das Kind lässt den Ballon los und schaut nach oben, in der Hoffnung, dass er aufsteige und wegfliege, und zunächst steigt er auch über ihre Köpfe hinweg, ein paar Meter, hinauf bis zum nächsten Stockwerk, aber dann sinkt er, und weil es nicht besonders windig ist, fällt der Ballon fast senkrecht zu Boden, direkt vor den Eingang des Instituts.

Mehrere Männer in Anzügen stehen dort zusammen, sie wirken sehr beschäftigt, sind offenbar in ein wichtiges Gespräch vertieft und merken gar nicht, was ihnen da vor die Füße fliegt. Erst als der Ballon zwischen ihnen hin und her tanzt und aus dem Kreis, den ihre Beine bilden, keinen Ausweg mehr findet, fangen die Männer an, sich den Ballon zuzuspielen.

Zaghaft anfangs, dann mit mehr Nachdruck, aber doch nicht so, dass sie ihre Koffer abstellen. Nach ein paar Minuten ziehen sie ihre Krawatten zurecht und gehen in verschiedene Richtungen davon. Der Ballon hüpft über den Bürgersteig, Passanten wechseln plötzlich die Straßenseite und machen einen Umweg, um das rote Ding zu treten und ihm so neuen Schwung zu geben, Hunde zerren an den Leinen ihrer Besitzer, bellen aufgeregt und ziehen bei der ersten Berührung den Schwanz ein. Das alles lässt sich der Ballon gefallen, er wird geschubst, gestoßen, geschlagen und vom Verkehr umhergewirbelt, ohne überfahren zu werden. Da nähern sich zwei Männer in blauen Overalls dem Ballon von der Invalidenstraße her, sie sind etwa hundert Meter entfernt, und ihnen ist noch nicht anzumerken, ob sie ihren Kurs ändern werden.

Stephan sagt: Die treten drauf. Und tatsächlich: Einer der beiden bringt mit einem Tritt den Luftballon zum Platzen. Die roten Fetzen liegen nun verstreut vor dem Physikinstitut und die Bauarbeiter gehen weiter, die Passanten gehen weiter, die Anzugträger und Kampfhunde gehen weiter, die Zeitungsverkäufer, Rentner und Werber gehen weiter und Stephan und ich gehen auch weiter. JAN BRANDT

(wird fortgesetzt)