Von Absinth bis Zinc

Wahre Lokale (66): Das „Chez Paul“ und andere halbwegs versteckte Bistrots in Paris

Irgendwo muss es einen Lieferanten für authentisches Zubehör geben. Alles sieht eine Spur zu pariserisch aus

Einige Jahre lang gingen wir mittags in den „Petit Ramoneur“. Flankiert von Sexshop und Peepshow hatte sich dieses Bistrot aus der Zeit der alten Markthallen in das Heute hinübergerettet. Seit mehr als drei Generationen wurde der „Kleine Schornsteinfeger“ von der gleichen Familie geführt, ebenso lange dürfte er nicht renoviert worden sein. Die Spiegel an den Wänden waren blind wie Absinthtrinker und dienten als Speisekarte; mit Kalkfarbe waren die täglich wechselnden Hauptgerichte in unleserlicher Schrift darauf gepinselt, eine Nachfrage war somit unvermeidlich. Die Muster auf den Wachstischdecken waren an den leicht erreichbaren Stellen vollkommen weggescheuert, dafür war der Rest von einem gut klebenden Film überzogen. Über der Theke und dem mit einem sehr lauten Organ gesegneten Patron hing eine Schornsteinfegerpuppe, der Namensgeber des Lokals.

Gleich neben der Toilettentür stand ein Tisch mit Vorspeisen und Desserts. Zum Drei-Gänge-Menü gab es für jeden Gast einen halben Liter Wein, „Reserve du Patron“ aus der Sternchenflasche sowie Leitungswasser. Das alles kostete rund 20 Mark und war so begehrt, dass man, um Wartezeiten am Zinc zu vermeiden, nicht später als fünf nach zwölf präsent sein musste, denn innerhalb der ersten fünf Mittagsminuten lief das Lokal voll wie ein leckes Boot. Die Tische standen eng, die Stühle ebenso. Wer zur Toilette wollte, zwang sämtliche anderen Gäste zum Aufstehen und kam, wenn er die Spülung nicht erst nach Verlassen des Kabuffs mit langem Arm von außen betätigte, mit überschwemmten Schuhen wieder. Das passierte selbstverständlich nur den wenigen verirrten Touristen, die von der übrigen Fauna milde belächelt wurden.

Einmal gingen wir einen halben Winter lang nicht in den „Ramoneur“, und als wir dann wieder hinwollten, war das Bistrot nicht mehr. Ein T-Shirt-Laden hatte sich eingenistet, der 1789ste im Umkreis von fünfzig Metern; zwischen den Feudeln hindurch sah man am hinteren Ende des Raumes noch die blinden Spiegel mit dem letzten unleserlichen Menü. Wir wandten uns grausend ab und bekamen tagelang keinen Bissen herunter. Uns tröstete einzig und allein die Vorstellung, dass der laute Patron das Haus für einen feinen Batzen Francs verkauft haben könnte und fortan mit Frau und Tochter an der Côte d’Azur in Saus und Braus leben würde.

Unsere Kantine ist seither das „Garibaldi“, in dem gleichzeitig drei Generationen (Großmutter, Mutter und Tochter) kochen und servieren, überwiegend für die Beschäftigten der um die Ecke liegenden Unesco. Das Bistrot liegt gut versteckt im 15. Arrondissement, für einen T-Shirt-Laden ist die Lage nicht geeignet, und somit dürfte das „Garibaldi“ noch lange erhalten bleiben.

So wie hoffentlich auch „Chez Paul“ in der Rue de Charonne, unweit der Bastille. „Chez Paul“ entdeckten wir vor ein paar Jahren mehr durch Zufall, das Bistrot wurde in einer Liste von zigarrenfreundlichen Restaurants erwähnt (was es gar nicht ist, jedenfalls die Gäste nicht). „Chez Paul“ liegt eigentlich auf der „falschen Seite“ der Stadt, nämlich dem Rive droit, und wir wohnen nahe dem Montparnasse-Friedhof auf dem linken Ufer der Seine. Eine gute halbe Stunde ist man mit der Metro von dort bis zur Bastille unterwegs, danach noch zehn Minuten zu Fuß die Rue Faubourg St. Antoine hoch und dann links in die Rue de Charonne. Der Weg lohnt allemal. Nirgends in der Stadt wüsste ich eine bessere Crème brulée, erst recht keine bessere Ile flottant. Und bis man nach zwei Stunden Schmausen bei diesen Desserts angekommen ist, hat man sich bereits durch Hasenrillette, hausgemachte Entenpastete, eingelegte Heringe, Kalbsnieren in Armagnac, Entenbrust mit Feigen, Pot au feu, Lammkoteletts mit Zwiebelkonfitüre und Gratin dauphinoise wie-bei-Muttern-aber-besser, ein mächtiges Chateaubriand oder ein anderes klassisches und selten gewordenes Bistrotgericht hindurchgenagt. Auch bei „Paul“ (von dem nur der Namen übrig geblieben ist; Paul selbst verstarb vor einigen Jahren) ist die Karte gekritzelt und kaum leserlich, bei genauem Hinsehen erkennt man allerdings, dass das nur ein fauler Trick ist: die handgeschrieben wirkende und mit Stockflecken übersäte Standardkarte ist in Wirklichkeit gedruckt und wird nur durch ein eingeheftetes Zettelchen täglich aktualisiert.

Überhaupt habe ich den Eindruck, dass es mit der Authentizität im „Chez Paul“ nicht weit her ist. Sieht man sich in Ruhe um, kann man angesichts diverser Details leicht zu der Überzeugung kommen, es gebe irgendwo in Paris einen Lieferanten für erblindete Spiegel, stromlose Aufputzleitungen, verblichene Bilder, löcherige Vorhänge, undichte Fenster, Gewittertierchen und Rauchpatinafarbe. Alles sieht einfach eine Spur zu pariserisch aus. Vielleicht eine Folge der Tatsache, dass „Chez Paul“ in amerikanischen und japanischen Gastroführern zu finden ist, jedenfalls bestimmen diese Volksgruppen in der oberen Etage des Lokals abends die Mehrheit des Publikums. Die Qualität des Essens hat darunter nicht gelitten, und nur das zählt. Also gehen wir zu „Paul“ und freuen uns über die herzliche Begrüßung und den für Paris erstaunlich zuvorkommenden Service. Die Zigarre rauche ich einfach auf dem Heimweg, wir schnüren dann noch zu Fuß durch die Rue de Lappe und das nahe gelegene Marais bis zur Metro St. Paul, was von der Türe „Chez Paul“ bis zum Metroeingang genau eine Robusto-Länge ausmacht.

Der Geheimtipp aber lautet: man meide die Abende und gehe am Sonntagmittag zu „Paul“. Kein Tourist weit und breit, statt dessen Eltern, die ihre Kinder aus der Provinz, und Kinder, die ihre Eltern aus der Provinz zum Essen eingeladen haben. Kein Gedränge, kein Warten. Freundliche Kontakte von Tisch zu Tisch, ringsum nur Menschen mit einem gesegneten Appetit und ein Patron, der genau weiß, was er diesen Leuten schuldig ist.

ARCHI W. BECHLENBERG