Von der Erziehung der Gefühle

■ Hundert Tage nach der Kindheit und Fremde Weiße im Russischen Filmklub

Dass in Russland auch heute ab und zu Filme gedreht werden, davon konnte sich das Hamburger Publikum von November bis Januar überzeugen, dank einer auf drei Monate angelegten Filmreihe im Metropolis-Kino. Dass sie dort schon immer gedreht wurden, erfährt man seit einigen Wochen: dank einer anderen, ebenso auf drei Monate angelegten Reihe, die der sowjetischen Filmavantgarde der 20er – 30er Jahre gewidmet ist. Wer es unter solchen Bedingungen aber trotzdem geschafft hat, dem russischen Kino fern zu bleiben, für den hat das Metropolis nun eine Dauerlösung parat: den seit Februar existierenden russischen Kinoklub, dessen Aufgabe ist es, regelmäßig die besten und beliebtesten russischsprachigen Filme zu zeigen.

Im April-Programm des Kinoklubs finden sich zwei Werke, die in ihrer Grundstimmung und ihrer Stilistik kaum unterschiedlicher sein könnten, obwohl sie vom selben Regisseur stammen und mehr oder weniger das gleiche Thema behandeln. Verantwortlich dafür ist nicht nur der Epochenwechsel (der erste Film, Hundert Tage nach der Kindheit, wurde 1975 gedreht, der zweite, Fremde Weiße, zehn Jahre später), sondern vor allem die hervorragende Fähigkeit des Regisseurs Solowjev, Stile zu wechseln, ohne dabei sich selbst untreu zu werden. Sergej Solowjev, bekannt unter anderem als Regisseur des legendären Perestrojka-Klassikers Assa, avancierte Ende der 80er zu einer Gallionsfigur der russischen Postmoderne und hat wie kaum ein anderer für den frischen Wind im postsow-jetischen Kino gesorgt. Dabei ist es ihm auf eine bemerkenswerte Weise gelungen, seinen Ruf, „der letzte Romantiker des sowjetischen Films“ zu sein, erfolgreich zu verteidigen.

Haben Sie schon mal den Sommer in einem Pionierlager verbracht? Können Sie sich vorstellen, dass man darüber einen anspruchsvollen Film drehen kann, ohne dabei gegen die Kanons des sowjetischen Kinderfilms zu verstoßen? Und dass das Werk anschließend den silbernen Bären bei der Berlinale gewinnt und von Francis Ford Coppola als einer seiner Lieblingsfilme zitiert wird? Mit Hundert Tage nach der Kindheit hat Solowjev vermocht, diese Bedingungen zu erfüllen.

Es ist dem Regisseur gelungen, einen Film zu machen, der, bei all seinen kleinen Schwächen (mal wirkt er zu sentimental, mal zu naiv, aber schließlich ist es auch eine Teenagerstory) das Prädikat „wertvoll“ durchaus verdient und zugleich ein hervorragendes Dokument einer Epoche darstellt, die es bekanntlich schon lange nicht mehr gibt.

Aus einem völlig anderen Stoff, sowohl geschichtlich als auch gefühlsmäßig betrachtet, setzt sich der autobiographische Fremde Weiße zusammen, ein Film, der in seiner Art den Kindheitserinnerungen Gestalt zu verleihen, an die Tradition von Tarkovskys Spiegel anknüpft und die Ästhetik der „tschernucha“ vorwegnimmt (“Schwarzmalerei“; ein Ende der 80er in der sowjetischen Filmkritik gängiger Begriff, mit dem man Werke bezeichnete, in denen die Trostlosigkeit des realsozialistischen Daseins als Leitmotiv fungierte). Der vom russischen Star-Kameramann Juri Klimenko meisterhaft fotografierte schwarz-weiße Tauben-Krimi (im Film dreht sich alles um Tauben) erhielt 1986 den Grand-Prix beim Filmfestival in Venedig. Zwei ungewöhnliche Geschichten über die „Erziehung der Gefühle“, das Erwachsenwerden und die Hoffnung, die man nie verlieren darf. Alexander Mirimov

Hundert Tage nach der Kindheit (OmU): Fr 17 + Sa 19 Uhr; Fremde Weiße: 20.4., 17 + 21.4., 19 Uhr, Metropolis