Vermintes Terrain

Über die Armenierfrage diskutierten in Mülheim an der Ruhr türkische und armenische Wissenschaftler. Ein Dialog am Rande des Tumults

von ANTJE BAUER

„Ich bin nicht hierher gekommen, um über den Völkermord an den Armeniern zu diskutieren“, sagte Richard Hovanissian. „Ich will darüber reden, wie er geschehen ist und in welchem Kontext.“

„Ich glaube nicht, dass es einen Befehl zur Vernichtung der Armenier gegeben hat“, sagte Fikret Adanir. „Das Osmanische Reich musste sich verteidigen.“

„Ich habe nicht gesagt, es war ein Genozid, und ich habe auch nicht gesagt, es war keiner“, sagte Halil Berktay. „Im momentanen Punkt der Diskussion habe ich eine Aversion gegen den Gebrauch dieses Begriffes. Die Themen sind so komplex, dass ein einziger Begriff reduzierend wirken kann.“

April 1915. Das Osmanische Reich ist im Zerfall begriffen, in Istanbul herrschen die Jungtürken unter dem militärischen Triumvirat Talaat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha. Es beginnt die Verfolgung und Vertreibung vor allem der in Süd- und Ostanatolien lebenden Armenier. Sie werden in die mesopotamische Wüste geschickt. Dabei kommen Hunderttausende um – durch Hunger, durch Erschöpfung, durch Überfälle und Gemetzel. Achthunderttausend Tote sind es vermutlich, vielleicht mehr.

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs, vor der Gründung der türkischen Republik 1923, werden einzelne Verantwortliche für diesen Völkermord vor Gericht gestellt und verurteilt, doch die Gerichtsverfahren erregen wenig öffentliches Interesse. Es gibt keine Kriegsverbrecherprozesse wie später in Nürnberg, keine Wahrheitskommission wie nach dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika und kein Völkermordtribunal wie nach den Massakern in Ruanda. Kein Verfahren also, in dem für die Weltöffentlichkeit der Verlauf der Geschehnisse, die Vorgeschichte, der Kontext und die Folgen festgehalten und juristisch bewertet würden.

Heute, 86 Jahre danach, stehen sich die Nachfahren der damaligen Kontrahenten unversöhnlich gegenüber. Beide Seiten haben eine eigene Narration entwickelt, die die Darstellung der anderen Seite negiert. Die armenische Diaspora bezieht einen Großteil ihres inneren Zusammenhalts aus der Verbitterung über die türkische Leugnung des Völkermords. In der Türkei hingegen lautet die offizielle Geschichtsversion, das Osmanische Reich habe sich gegen einen bewaffneten Armenieraufstand zur Wehr setzen müssen. Wer behauptet, es habe einen Völkermord an den Armeniern gegeben, wird nicht nur zum Türkenfeind abgestempelt, sondern auch juristisch verfolgt – ein Verfahren gegen den Menschenrechtsaktivisten Akin Birdal ist deshalb zurzeit anhängig.

Wo aber die Fixierung auf einen „Feind“ zum Bestandteil einer nationalen Identität wird, gerät eine Annäherung in den Sichtweisen zu einer Bedrohung. Die Konferenz zum Thema „Von der schweren Last der Geschichte. Versuch eines armenisch-türkischen Dialogs“, die Ende März in der Evangelischen Akademie in Mülheim an der Ruhr stattfand, wurde dementsprechend misstrauisch beobachtet.

Wie miteinander reden, wenn jedes Wort in ein Minenfeld führt? Wenn schon vom Ausgangspunkt der Analysen auf die beabsichtigten Ergebnisse rückgeschlossen wird? Wer allein über die Massaker redet, vertritt nach Ansicht der Türken die armenische Sichtweise. Wer über den Kontext, über die Vorgeschichte reden will, der wird von der armenischen Seite verdächtigt, Rechtfertigungsgründe für die Massaker zu suchen. Wie reden, wenn die – in zwei Lager gespaltene – Zuhörerschaft mit Argusaugen darüber wacht, dass die jeweils „eigenen“ Positionen auch nicht aufgegeben werden?

Diskussionen unter türkischen und armenischen Historikern hat es schon zuvor gegeben, doch zum ersten Mal war auch die Öffentlichkeit zugelassen. „Dies ist ein schwieriges Thema für uns alle, aus unterschiedlichen Gründen“, sagte Halil Berktay, Professor für Geschichte an der privaten Sabanci-Universität in Istanbul, und Richard Hovanissian, sein armenischstämmiger Kollege aus den USA, sekundierte, auch auf die armenischen Teilnehmer gebe es Druck seitens ihrer Gemeinde: Den Dialog mit Türken aufzunehmen, berge schließlich die Gefahr, die türkischen Behauptungen wenigstens teilweise zu legitimieren.

Angemeldet hatten sich 150 Teilnehmer, Armenier zumeist sowie einige Kurden und Assyrer, die in einer Debatte über die Geschehnisse von 1915 auch das ihrer eigenen Volksgruppe widerfahrene Unrecht anerkannt sehen wollten. Aber auch einige Türken waren da, die in der Mehrzahl „dafür sorgen wollten, dass hier nicht die Unwahrheit verbreitet wird“, wie sie sagten. Vor dem Eingangstor zur Akademie hatten sich zudem mehrere Dutzend Demonstranten eingefunden, Mitglieder einer offenbar zu diesem Zwecke gegründeten „Deutsch-türkischen Initiative“, die sich für die türkische Presse vor überlebensgroßen, schwarz umkränzten Portraits von Aserbeidschanern ablichten ließen, die im Nagorni-Karabach-Krieg umgekommen waren. Die Demonstranten beklagten, in die Akademie nicht eingelassen zu werden – was sie freilich nicht hinderte, sich in ebendieser geschmähten Akademie zum kostenfreien Abendessen einzufinden. (In diesem Fall kam zuerst die Moral und dann das Fressen.)

Unter dem Titel „Die Dialogfalle“ hatte das türkische Massenblatt Hürriyet schon vor Beginn der Konferenz darauf hingewiesen, dass wieder einmal die ganze Welt die Türkei in den Dreck ziehen wolle, unter tätiger Mithilfe „türkischstämmiger“ Feinde. Wohl um die „Dialogfalle“ zu verhindern, hatten Unbekannte zuvor die türkischen Podiumsteilnehmer mit dem Tode bedroht, weshalb auch Polizei in Uniform und in Zivil präsent war.

Einen Dialog zu führen, setzt ein gemeinsames Territorium voraus, auf dem er geführt werden kann. Im vorliegenden Fall keine einfache Sache, denn die osmanischen Archive sind großenteils noch verschlossen, vorhandene Dokumente werden je nach Interessenlage interpretiert, Überlebende gibt es kaum noch. So bleibt nicht aus, dass vor dem Dialog eine Reihe von Monologen liegt, aus denen sich im besten Fall bestimmte Übereinstimmungen ergeben.

Wenn die aus der Türkei stammende, in Deutschland lebende Soziologin Elçin Kürsat-Ahlers über Faktoren sprach, die einen Völkermord begünstigen (und dabei umstandslos die Massaker an den Armeniern als Genozid bezeichnete), so trafen sich ihre Analysen teilweise mit denen von Halil Berktay, der in der Zeit vor 1915 eine Periode der gegenseitigen nachbarlichen Anfeindungen in den Dörfern des zerfallenden Osmanischen Reichs ausmachte, die in gewisser Weise den Boden bereiteten für eine Akzeptanz der darauf folgenden Vertreibungen. Und wenn Lorna Touryan Miller, eine aus den USA angereiste Armenierin, am Beispiel ihres Vaters über die Traumata der überlebenden Armenier sprach, so konzedierte sie gleichzeitig, dass ihr Vater wie praktisch alle Überlebenden aus der Region nur deswegen nicht umgekommen war, weil sich eine türkische Familie seiner angenommen und ihn wie ein eigenes Kind aufgezogen hatte.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Armenier in der Türkei hat nicht nur moralische und geschichtswissenschaftliche Motive, sondern zum Teil auch ganz handfeste ökonomische, wie an Kaan Soyak zu sehen war, einem jungen türkischen Unternehmer, der als Vorsitzender des „Turkish-Armenian Business Development Council“ versucht, wirtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern zu entwickeln, und, weil es keine diplomatischen Beziehungen gibt, auch als politischer Vermittler tätig wird.

Leicht wie ein Seiltänzer, scheinbar unberührt von der Last der Geschichte, referierte Geschäftsmann Soyak die zahlreichen wirtschaftlichen Einbußen, die Armenien und die Türkei erleiden, weil die Grenzen zwischen den beiden Staaten geschlossen und offizielle Geschäftsverbindungen ein Hindernislauf sind. Lasst uns uns zusammensetzen und die Archive studieren, und dann werden wir gemeinsam herausfinden, was nun eigentlich war, so sein Vorschlag. Es könnte alles so einfach sein, wenn es nicht so kompliziert wäre.

Das Reizwort „Genozid“ wurde von allen in der Türkei lebenden Referenten vermieden, von der Mehrzahl der übrigen Podiumsteilnehmer hingegen ausdrücklich gebraucht. Starker Tobak für den Teil des Publikums, der der offiziellen türkischen Sichtweise anhängt. Wie es auch für das armenische Publikum ziemlich unerträglich war, sich anhören zu müssen, wie die Massaker an den Armeniern heruntergespielt oder verteidigt wurden. Immerhin ging man nicht mit Fäusten aufeinander los, sondern versuchte, durch rhetorische Fragen, durch Zitate aus alten Schriftstücken, die eigene Betrachtungsweise vor Verwässerung zu schützen. Gelegentlich kam es zu Tumulten. Und beide Seiten im Publikum versicherten hinterher, nichts Neues dazugelernt zu haben. Vielleicht bestand das Neue aber nicht in den dargelegten Fakten, sondern in der schlichten Tatsache, dass man nebeneinander saß und sich Unerträgliches anhörte. So schwer es auch gelegentlich fiel.

ANTJE BAUER, 47, ist freie Autorin. Ihr Spezialgebiet ist der Mittelmeerraum