eine woche im april
: Vielleicht hätte Jörg Pilawa weitermachen sollen

Autorennen und Quizshows

Meine Eltern wohnen in einem Neubaugebiet. Alle Häuser in der Siedlung sehen gleich aus, roter Backstein, Walmdach, weiße Sprossenfenster. Die Grundstücke sind durch Zäune voneinander getrennt. Familien mit Kindern leben hier und Rentner. Samstags wird der Rasen gemäht und die Hecke geschnitten, sonntags geht man gemeinsam in die Kirche.

Das Neubaugebiet ist eine so genannte verkehrsberuhigte Zone. Die Straßen sind eng und kurz, an jeder Kurve stehen Holzpfähle mit Reflektoren, Hubbel sollen die Fahrer zum Abbremsen zwingen. Für die Jugendlichen ist das Neubaugebiet eine Herausforderung. Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, veranstalten sie Autorennen, sie reißen die Pfähle um, pflügen durch Blumenbeete und schieben stehen gelassene Dreiräder vor sich her. Es dauert nicht lang, bis die Polizei gerufen wird, dann beginnt die Jagd.

Als ich den Messingknopf neben der Haustür drücke, übertönt das Geräusch aufheulender Motoren und Sirenen Mozarts „Kleine Nachtmusik“, eine von vier klassischen Klingelmelodien. Ich klingele noch dreimal und gehe damit alle Möglichkeiten durch, Bach, Beethoven, Wagner, bis mein Vater die Tür öffnet.

„Willst du deinen Vater nicht begrüßen?“, fragt er, nachdem wir uns eine Weile schweigend gegenübergestanden haben. Er sieht mich von oben bis unten an. Seit ich weggezogen bin, hat er sich kaum verändert. Jeden Morgen streicht er sich die Haare mit Birkenwasser ein, damit sie besser liegen, abends hängen ihm dann einige Strähnen ins Gesicht, die Krawatte ist verrutscht, und unter den Achseln haben sich Schweißflecken gebildet. „Hallo“, sage ich und streife meine Schuhe an der dafür vorgesehenen Matte ab.

„Secondhand?“, fragt er und deutet auf meine Turnschuhe. Ich nicke. Dann geben wir uns die Hand, sein Griff ist fest und warm. Ihm ist nicht anzusehen, ob er sich freut, dass ich da bin. Neben dem Telefontisch steht ein Toilettenwagen, es riecht nach Desinfektionsmitteln, nichts erinnert an früher, die Möbel sind neu oder stehen anders. Die alten Fotos hat Vater abgenommen, er konnte sie nicht mehr sehen. Dort, wo sie hingen, ist das Weiß der Tapete heller.

„Deine Mutter sitzt im Wohnzimmer“, sagt er. „Ich weiß“, sage ich. Im Wohnzimmer ist es heiß, die Heizung läuft auf Hochtouren. Mutter sieht sich eine Quizshow an, ich lege ihr die Hand auf die Schulter, beuge mich zu ihr herab und schreie sie an: „Frohe Ostern!“

Langsam wendet sie sich mir zu, ihre Augen sind glasig, an den Seiten verkrustet, Flüssigkeit läuft ihr über die Wangen, sie weint, wenn jemand eine Frage nicht beantworten kann. Und weil Jörg Pilawa heute zum letzten Mal die „Quiz Show“ moderiert und wie so oft viele Fragen offen bleiben, muss ich den ganzen Abend neben Mutter sitzen und ihr die Tränen aus dem Gesicht wischen.

JAN BRANDT

(Schluss)