Das gibt’s auch nicht bei VW

Vom Selbstverständlichen im Umgang mit Menschen, Teil III: Das Verhängnis der Privatregeln und die Folgen falscher Ordnungsliebe

■ Niemand will Behinderten Böses. Aber wie ist es in unserer Gesellschaft wirklich bestellt um den sachgerechten Umgang mit Menschen, die Versorgung brauchen? Dieser Frage geht diese Serie nach. Sie handelt – durchaus streitbar – von der pflegerischen Kompetenz jenseits von Pädagogik und Integrationswut

von PETER FUCHS

Die Schwierigkeit ist oft, dass die Anwendung von Privatregeln gut gemeint ist. Böser Wille ist leicht zu orten und schnell auszumerzen, aber der gute Wille, der Böses anrichtet, ist gut getarnt.

In einem Sonderkindergarten arbeitet eine kinderliebe Betreuerin. Kinder sind süß, wohl genährt, sind für ihr weiches Herz Wonneproppen. Kinder sind putzig, haben große Augen, die strahlen können. Sie sind (wenn sie in dieses Schema fallen) geeignet, alle Entzückungen mütterlicher Instinkte wachzurufen. Kurzum: Diese Betreuerin hat eine Vorstellung davon, wie Kinder sind, was sie wollen, womit man ihnen Gutes tut.

Was mögen Kinder denn? Vor allem essen und trinken! Und was essen sie am liebsten? Spaghetti natürlich und Eis und Fischstäbchen. Warum sollte das bei schwer behinderten Kindern anders sein? Wenn es Eis gibt, häuft die Betreuerin vor den Kindern ihrer Gruppe Berge von Eis auf. Leider besteht das Problem darin, dass diese Kinder Schwierigkeiten haben, auszudrücken, ob sie etwas mögen oder nicht. Oft mögen sie nicht viel, und sehr oft mögen sie nicht, was ihnen beim Essen Probleme bereitet. Ein Wackelpudding beispielsweise ist schwer zu essen und noch schwerer zu füttern. Eis, zum Glück, bereitet da weniger Probleme. In der Gruppe, von der ich rede, sind drei Kinder, die gefüttert werden müssen. Nach wenigen Minuten weinen zwei der Kinder, sie zeigen alle Zeichen der Abwehr, sie drehen den Kopf weg, sie lassen das Eis herauslaufen. Aber da Kinder Eis mögen, werden sie weiter gefüttert. Aber das ist doch lecker! Und noch ein Löffelchen. Aber wer wird sich denn so anstellen! Nun mach doch den Mund auf . . . Nur noch zwei Löffelchen!

Was ist geschehen? Mehreres hat sich ineinander verschlungen. Da ist einmal die einfache Tatsache, dass schwer behinderte Kinder aus vielen Gründen schlechte Zähne haben. Jeder weiß, wie empfindlich es schmerzt, wenn Eis auf sensible Zahnbereiche trifft. Uui, das geht durch! Was macht ein gesunder Mensch? Er rast mit seiner Zunge herbei und sieht zu, dass er das Eis im Munde an eine andere Stelle schiebt. Aber wenn die Zunge nicht rasen kann? Wenn sie schwerfällig im Munde liegt? Dann wird der Schmerz unerträglich. Und gleich kommt noch ein Löffel hinterher. Voll Eis!

Da ist das zweite Problem: Wenn man schnell hintereinander einen Löffel Eis nach dem anderen isst, stellen sich Kopfschmerzen ein. Außerdem schleimt Eis, es rutscht nicht so leicht die Speiseröhre hinunter, wie man denkt. Und warum wird so schnell gegessen? Es ist keine Zeit, der Speisesaal darf nicht endlos blockiert werden. Aber warum lässt man dann die Kinder das Eis aufessen? Weil Kinder Eis mögen. Und, verhängnisvolle Privatregel: weil man den Teller leer isst, denn das gehört sich so, und gerade behinderte Menschen müssen lernen, was sich gehört. Sonst sind sie später auffällig. (Zwischenhinweis zum Weinen: Wenn jemand weint [klagt, schreit, den Kopf wegdreht etc.], dann hat er ein Problem. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieses Problem durch jemanden mit einer Privatregel verursacht wird.

Ein Säugling, der schreit, hat keine Langeweile, und er will auch nicht die Eltern ärgern. Er hat Schwierigkeiten. Ein Behinderter, der nicht essen will, wird nicht verhungern. Er mag womöglich die Speisen nicht, die man ihm serviert. Er mag sie auch dann nicht, wenn Sie ihm sagen, dass Rahmspinat etwas Vorzügliches sei oder ein Camembert, der schon krabbelt, ein Fest für Feinschmecker. Vergessen Sie nie, dass etwas, was Sie mögen, dem Behinderten große Schwierigkeiten bereiten kann.

Das Eis war ein Beispiel, aber ein hartes Stück Schokolade kann im Munde eines Menschen, der nicht kauen kann, ein gigantisches Ärgernis sein. Ein endlos durchgelutschtes Stück Schnitzel schlucken, das ist nicht einfach, es ist wie ein kleines geschmackloses unverschlingbares Wollknäuel. Tip: Wenn Sie mit jemandem zu tun haben, der im Verlauf Ihrer Interventionen zu weinen beginnt, schmeißen Sie alles hin, trösten Sie das Objekt Ihrer Eingriffe. Dann lehnen Sie sich zurück und fragen sich, was Sie denn gerade so getan haben, dass es jemanden weinen macht. Reden Sie sich nicht vorschnell auf endogene Stimmungsschwankungen des Behinderten hinaus. Überprüfen Sie stattdessen die Situation. Noch ein Tip: Lassen Sie sich von jemandem mit Eis füttern, der Sie nicht liebt.)

Da ist eine Werkstatt für Behinderte. Sie wird von einem als Kaufmann ausgebildeten Herrn geleitet. Er hat offenbar zwei klare Regeln im Kopf: Die Dinge müssen sich rechnen, und: Sie rechnen sich nur, wenn Ordnung herrscht. Ordnung ist das, was dem Ertrag nutzt, Unordnung, was ihn schmälert. Die Folge ist, dass die Werkstatt nicht nur ein Betrieb ist, in dem Behinderte arbeiten, sondern ein Betrieb wie alle Betriebe, nur dass die behinderten Mitarbeiter erheblich weniger verdienen. Die Ordnung wird aufrechterhalten durch klare Regeln. Zum Beispiel darf während der reinen Arbeitszeit nichts getrunken werden. Der Bereich der Verwaltung ist für behinderte Personen tabu. Mit dem Aufräumen vor Dienstschluss müssen alle Mitarbeiter gleichzeitig anfangen. Ehemalige Mitarbeiterinnen dürfen das Haus nicht mehr betreten. Es ist nur gestattet, Bilder aufzuhängen, die von der Leitung genehmigt sind. Es ist übrigens erstaunlich – die Leitung hat Geschmack. Sie schätzt Feininger und die Picassos der roten und blauen Periode, außerdem durchkonstruierte, kontrastreiche Fotos aus dem Mittelmeerraum. Das Haus sieht aus wie das Wartezimmer eines Zahnarztes.

Die Antwort auf die Frage, warum denn die behinderten Mitarbeiter nicht während der reinen Arbeitszeit trinken dürfen, war: Das gibt’s auch nicht bei VW oder BMW. Alles komme darauf an, so nah wie möglich an die Wirtschafts- und Arbeitsrealität heranzukommen. Die Schwierigkeit ist, dass mit diesen Regeln die Realität der Werkstatt für Behinderte verkannt wird. Es gibt in ihr Mitarbeiter, die leicht, einige, die schwer, und mittlerweile etliche, die sehr schwer behindert sind. Vor allem in den letzten beiden Gruppen kommt es nicht selten vor, dass Medikamente genommen werden müssen, die unter anderem auch erheblichen Durst auslösen. Aber das ist vielleicht noch ein (immerhin beachtenswerter) Sonderfall.

Bedrückender ist, dass jemand, der einer Regel folgen soll, die seine vitalen Bedürfnisse betrifft, die Regel verstehen können muss. Ich rauche zum Beispiel nicht, wenn ich Seminare abhalte, aber das gelingt mir erstens, weil ich den Sinn der Regel begreifen kann, und zweitens, weil ich gelernt habe, auch vitale Bedürfnisse aufzuschieben. Beides kann aber bei schwer geistig behinderten Menschen nicht vorausgesetzt werden. Auf ihrem Monitor erscheint das Gefühl „Durst“, aber es ist nicht begleitet von einer rationalen Einstellung. Infolgedessen erzeugt die Regel „Trinke nicht . . .“ eine Konfliktquelle ersten Ranges. Wo die Einsicht fehlt, muss Druck her. Und Dressur! (Hauptregel zu vitalen Bedürfnissen: Immer dann, wenn eine Maßnahme getroffen wird, die vitale Bedürfnisse von Menschen berührt, ist sorgfältigste Überlegung erforderlich. Essen, Trinken, Kleidung, schlafen, sich entleeren, Schmerzen und anderes mehr gehören in den Kontext solcher Bedürfnisse und fundamentaler Betreffbarkeiten. Man muss aber keine Liste lernen, es genügt, in sich hineinzulauschen und zu prüfen, was man selbst empfinden würde, wenn einen diese oder jene Maßnahme träfe. Hinweis: Der korrekte Umgang mit vitalen Bedürfnissen leitet sich ab aus dem Begriff der Menschenwürde. Wir wissen nicht, was das ist, Menschenwürde, aber wir wissen sehr wohl und ohne großes Nachdenken, was das ist: menschenunwürdig.

Warum dürfen die behinderten Mitarbeiter nicht in den Verwaltungstrakt? Oh seltsame Vorschrift! Machen sie da etwas kaputt? Pinkeln sie in die Ecken? Kämen sie in Massen, wenn man es ihnen erlaubte, sich dort aufzuhalten? – Ebenso merkwürdig ist es, dass alle Mitarbeiter gleichzeitig beginnen müssen aufzuräumen. Denn jeder, der etwas vom Fach versteht, weiß, dass diese Mitarbeiter je nach Behinderungsart ganz unterschiedliches Zeitverhalten haben. Jemandem mit dem Downsyndrom kann man im Allgemeinen nicht hetzen; eine hyperaktive Mitarbeiterin wird schon lange in den Startlöchern liegen.

Aber lassen wir diese Kleinigkeiten! Fragen wir uns lieber, was wir von einer Führung halten, die einen aseptischen, steng hierarchischen Betrieb mit behinderten Mitarbeitern aufbaut? Wir könnten sie nicht einmal aus der Sicht normaler Personalführungskonzepte loben. Immerhin, einmal im Jahr ist Betriebsausflug. Man fährt mit einem Schiff einige Stunden herum. Da kann wenigstens keiner weglaufen, und die Ordnung ist gewährleistet.