Eine Spur von Anarchie

Ob falscher Rentenbescheid oder fehlendes Krankengeld: Der Alltag im Grenzland birgt viele bürokratische Tücken

aus Eurode DANIELA WEINGÄRTNER

Anelies weint. Mit Mann und Bruder steht die ältere rothaarige Frau am Straßenrand und blickt auf das Grüppchen junger Demonstranten, das die kleine Verkehrsinsel besetzt hat. Genau an der Stelle, wo einmal die deutsch-holländische Grenze verlief, pflanzen sie ihre Antifa-Schilder auf. Sie wollen den „symbolischen Einmarsch“ deutscher und holländischer Neonazis in die Niederlande verhindern, den der Neusser Christian Malcoci geplant hat. Das Mitglied der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei möchte im kommenden Jahr im niederländischen Kerkrade für den Gemeinderat kandidieren.

Die Nieuwstraat bildete schon immer die Grenze zwischen Kerkrade und Herzogenrath. Bis zum ersten Weltkrieg konnten die Nachbarn sich ungehindert besuchen. 1914 wurde der „eiserne Vorhang“ errichtet, eine zwei Meter hohe Mauer, an der Soldaten patrouillierten. Nun war der Erfindungsreichtum der Grenzländer gefordert: 1950 entdeckten niederländische Arbeiter einen unterirdischen Gang, der in einem Brunnen auf deutscher Seite endete. Die Mauer wurde später durch eine niedrige Betonbarriere ersetzt, ein Kuriosum entstand: Europas einzige Straße, auf der – je nach Straßenseite – unterschiedliche Straßenverkehrsordnungen galten.

Die Wimperntusche schmiert schwarze Schatten in Anelies’ Gesicht. „Es wehren sich so wenige dagegen“, sagt sie. „Mein Bruder ist 1940 geboren – genau an dem Tag, an dem die Nazis in Holland einmarschiert sind. In der gleichen Stunde sogar, meine Mutter hat es immer wieder erzählt. Dass die jetzt wieder marschieren, im Jahr 2001 . . .“

Während Anelies ihre Familiengeschichte erzählt, kommen Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen vom Bahnhof Herzogenrath herauf. Der Bundesgrenzschutz lässt sie passieren, die holländischen Kollegen ebenso. Dass das Häuflein der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei und der Nederlandse Volks Unie von der deutschen Polizei in einen Aachener Feuerwehrhinterhof umgeleitet wurde, hat sich bei den Gegendemonstranten noch nicht herumgesprochen. Und auch die Grenzschützer zeigen sich ahnungslos. „Neonazis? Keine Ahnung, ob die noch kommen.“ Der BGS-Einsatzleiter schüttelt den Kopf. Dann gibt er dem Kollegen aus Limburg einen freundschaftlichen Knuff. „Wir lassen sie nicht raus und ihr lasst sie nicht rein – so machen wir das.“

Der kleine Dienstweg also funktioniert in „Eurode“, wie sich der Gemeindeverband von Herzogenrath und Kerkrade nennt. Bereits 1976 schlossen sich die Provinz Limburg in den Niederlanden, die Provinzen Limburg und Lüttich und die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien sowie die deutsche Region Aachen zur Euregio Maas-Rhein zusammen. Inzwischen gibt es dutzende solcher Grenzregionen in Europa, die mit EU-Mitteln gefördert werden. Ein guter Teil des Geldes aus Brüssel fließt in Beratungsstellen. Denn das Leben an der Grenze, die es seit Jahren nicht mehr gibt, bleibt kompliziert.

Zweierlei Baurecht

Diese Erfahrung haben auch die engagierten Grenzüberwinder in Eurode gemacht. Im nahen Maastricht präsentierte sich Europas einzige grenzüberschreitende Gemeinde 1991 zum ersten Mal öffentlich, vor historischer Kulisse: Hier handelten die Staats- und Regierungschefs der EU den Maastrichter Vertrag aus, in dem die gemeinsame Währung beschlossen wurde. Am 1. Januar 1998, noch vor Einführung des Euro, gab sich der Zusammenschluss von Eurode einen korrekten juristischen Rahmen: Eine öffentlich-rechtliche Körperschaft mit Vorstand und Verwaltungsrat wurde gegründet.

In einem „Nachbarschaftshilfevertrag“ vereinbarten die Gemeindevorstände, dass künftig die Feuerwehren bei Bedarf gemeinsam ausrücken sollen. Die „Überfremdung“ des niederländischen Ortsteils durch Deutsche, die von den niedrigen holländischen Baupreisen profitieren, wurde durch einen unbürokratischen Trick gebremst: Niederländische Baugesellschaften erhalten Sondergenehmigungen und bauen auf deutschem Hoheitsgebiet nach holländischem Baurecht. Dabei müssen viel weniger Auflagen beachtet werden, und die Baupreise sinken.

„Die behindernde Wirkung nationaler Rechtsvorschriften ist für Kerkrade und Herzogenrath ein Klotz am Bein“, steht im gemeinsamen Werbeprospekt. „Deshalb versuchen die Eurode-Gemeinden, indem sie ein gewisses Maß an Anarchie an den Tag legen und durch Experimente in der Grenzregion, die Rechtsvorschriften zu umgehen oder eine Vorreiterrolle für die Änderung von Rechtsvorschriften zu spielen.“

Mehr Experimentierfreude in Ämtern und Behörden, die mit Grenzgängern zu tun haben, würde auch Christina Löhrer-Kareem das Leben erleichtern. Die 43-Jährige arbeitet bei der Grenzgängerberatungsstelle der Euregio. Als sie kurz vor zwei das Büro der AOK im niederländischen Vaals betritt, wo die Sprechstunde heute stattfindet, drängen sich die Menschen bereits in der kleinen Schalterhalle. Mitarbeiter der niederländischen und der deutschen Sozialversicherungsträger sind angereist, um komplizierte Fragen „auf dem kurzen Dienstweg“ zu klären. Die unterschiedlichen Sozialsysteme bedingen, dass viele Grenzgänger in Gesetzeslücken fallen. Manchem wird erst nach Jahren klar, dass die Entscheidung für ein Haus auf der anderen Seite der Grenze schwer wiegende Folgen für die soziale Sicherung haben kann.

Marita Meyers* hat von 1972 bis 1979 in Holland gewohnt. Als jüngst der Rentenbescheid der Bundesanstalt für Angestellte kam, fiel sie aus allen Wolken: Die Zeit, in der sie mit Mann und zwei Kindern in Holland gemeldet war, wird nicht als Kindererziehungszeit beim Rentenanspruch berücksichtigt. Die Euregio-Beraterin hat das passende Urteil des Europäischen Gerichtshofs parat: Dieser hat 1999 entschieden, dass eine Grenzgängerin einer in Deutschland lebenden Mutter gleichgestellt werden muss. Der Kollege von der Bundesversicherungsanstalt Münster sieht die Unterlagen durch und erklärt, wie Frau Meyers ihren Einspruch gegen den Rentenbescheid formulieren muss.

So einfach ist Jan Kaisers* Problem nicht zu lösen. Er hat einen niederländischen Pass und lebt auf der holländischen Seite der Grenze, arbeitet aber seit dreißig Jahren bei einer deutschen Druckerei. Nie gab es Probleme, wie die Personalchefin betont, die ihn zur Grenzgängerberatungsstelle begleitet. Dann aber wurde der Drucker schwer krank. Erst gab es Lohnfortzahlung, dann Krankengeld. Seit November zahlt auch die Krankenkasse nicht mehr und verweist auf das Arbeitsamt, das nun an der Reihe sei, „Krankenüberbrückungsgeld“ zu zahlen.

Die Krankenkasse zahlt nicht

Jan Kaiser ist in eine der Gesetzeslücken gefallen, die im Grenzland so typisch sind. Denn Sozialversicherungsbeiträge werden in dem Staat abgeführt, in dem man arbeitet, bei Vollzeitarbeitslosigkeit ist dagegen das Land, wo Jan Kaiser lebt, zuständig. Deshalb verweist das deutsche Arbeitsamt an die holländischen Kollegen, die schieben den Fall zurück nach Deutschland.

Noch dieses Jahr soll es für die Grenzlandbewohner eine weitere Anlaufstelle geben. Der EU-Fonds für regionale Entwicklung steuert 1,65 Millionen Gulden bei. Auf der Neustraße/Nieuwstraat wird ein „Betriebssammelgebäude“ für grenzüberschreitende Dienstleistungen gebaut – es wird genau 60 Meter weit ins deutsche und 60 Meter ins holländische Hoheitsgebiet hineinragen. Auf symbolträchtigem historischen Boden werden die Arbeitsämter beider Länder, eine gemeinsame Polizeiwache, Rechtsanwälte, Unternehmensberater, Banken, Versicherungen und Touristikbüros einziehen. Symbole sind hier wichtig, denn das kollektive Gedächtnis reicht im Grenzland weiter zurück als anderswo.

Als Anelies 1955 ihren ersten deutschen Pass bekam, gab es den eisernen Vorhang noch. Der deutsche Vater war kurz zuvor aus russischer Gefangenschaft nach Holland zu Frau und Kindern zurückgekehrt. Nach damals gültigem Staatsbürgerschaftsrecht erhielten die Kinder die Nationalität des Vaters. Stolz zeigte die 13-Jährige den nagelneuen Pass ihren Freundinnen, als sie im Sommer zur Tante nach Amsterdam in die Ferien fuhr.

„Das war ein Einschnitt in meinem Leben“, sagt die heute 59-Jährige, die mit jungen Autonomen auf der Nieuwstraat gegen Faschismus demonstriert. „Kein Kind durfte mehr mit mir spielen. Ich hab das überhaupt nicht verstanden. Ich war doch so stolz auf meinen Pass.“ Später hat sie einen Deutschen geheiratet, ist auf die deutsche Seite hinüber gezogen. „Im Herzen bin ich Holländerin“, sagt Anelies. „Deshalb muss ich immer hier wohnen, ganz nah an der Grenze. Hier kann ich nicht weg.“

*Name von der Redaktion geändert