Die Lehren des Dialogikers

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas spricht in China über universelle Gültigkeit der Menschenrechte, und der Rockstar Cui Jian erklärt sie beim Bier

aus Peking GEORG BLUME

Was für eine Premiere! Auto- und Maschinenverkäufer aus dem Westen ist man in Peking ja gewohnt, ebenso deren politische Begleitkolonnen in Gestalt von Ministern und Präsidenten. Einem westlichen Philosophen hingegen, der nur zum Vorlesen kommt, ist man hier selten begegnet. Doch Jürgen Habermas hat die Mühe auf sich genommen. Der große Überlebende der Frankfurter Schule ist nach Peking gekommen, um den Chinesen „eine Interpretation der Menschenrechte“ zu liefern, die „auch der Sicht anderer Kulturen gerecht wird“. Die Partei hat dagegen keinen Einspruch erhoben, und so ist der große Vorlesungssaal der Chinesischen Sozialakademie am Dienstagmorgen rappelvoll mit Studenten, Wissenschaftlern und interessiertem Publikum gefüllt – darunter die ausgefallensten Gestalten.

Getarnt mit Baseballkappe und Sonnenbrille drängt sich der sonst nachtaktive Rockstar Cui Jian in den Saal. Die Symbolfigur der demokratischen Studentenrevolte von 1989, vom Westen „chinesischer Bob Dylan“ getauft, meint „von Vorlesungen in der Universität früher nie etwas verstanden zu haben“. Doch nach zweieinhalb Stunden Habermas hat Cui Kappe und Brille abgelegt und ist völlig von Sinnen. „Ich habe nicht gewusst, dass Philosophie so klar und einleuchtend sein kann“, staunt der Musiker – umdrängt von studentischen Autogrammjägern, die den Rockstar plötzlich wichtiger finden als den Philosophen.

Nicht alle werden Habermas so leicht verstanden haben wie Cui, der bis heute von den Forderungen der Studentenrevolte keine Abstriche macht. Nach der Vorlesung stellt er im Freundeskreis mit einem Schriftsteller und einem Künstler drei Biergläser auf den Tisch und erklärt das Problem der Chinesen mit den Menschenrechten: „Schon wenn ich mir jetzt als Erster eines der drei Gläser nehme, fühle ich mich im Unrecht. Uns wird ständig gesagt, mit der Inanspruchnahme eigener Rechte die des anderen zu gefährden.“ Sich durch diese, nicht zuletzt durch das Zusammenleben so vieler Menschen in China begründete Tradition nicht einschüchtern zu lassen – das ist das große Thema von Cuis Liedern.

„Ich komme als Barbar“

Habermas bietet ähnliche Anregungen. Er will zwar „die Chinesen nicht belehren“ und zeiht sich, „mit dem Gefühl eines Barbaren hierher zu kommen“, der über China nichts weiß. Aber das sind vorgeschickte Höflichkeiten. Denn die Lehre des Starnberger Philosophen handelt schließlich von der Weltgesellschaft und den daraus folgenden weltbürgerlichen Zustände, deren Herausforderungen sich China wie jedes andere Land stellen muss. „Menschenrechte fallen nicht vom Himmel“, erklärt er seinem Pekinger Publikum, „sondern sind eine produktive Antwort auf einen globalen Modernisierungsprozess ohne Alternative.“

Hier ist Habermas ganz der moderne Marxist, als der er in China lange Zeit ausschließlich rezipiert wurde. Denn er stellt sein Menschenrechtsverständnis auf eine materialistische Basis, die auch bei ihm Globalisierung heißt. „Wenn wir durch den Weltmarkt zusammengezwungen werden, brauchen wir gemeinsame Regeln, und genau dafür bieten sich die Menschenrechte an.“ Es klingt, als hätte China keine andere Wahl.

An dieser Stelle kommt das Publikum nicht mehr mit. Am Ende will jemand wissen: „Kann China nicht doch einen eigenen Weg gehen?“

„Und als Eurozentriker“

Im Hauptteil seines Vortrages hat Habermas diese Frage im Kern verneint. Er lehnt es ab, in die Menschenrechtsdebatte „kulturelle Dimensionen“ einzuführen, wie es nach seiner Meinung diejenigen tun, die behaupten, in Asien würden die Pflichten des Menschen vor seine Rechte gestellt. Auch der höheren Bewertung sozialer Menschenrechte im Vergleich zu den politischen Menschenrechten, wie sie die Chinesische Parteiführung vornimmt, will Habermas nicht folgen: „Mich beeindruckt hier zwar das funktionale Argument, aber das lässt sich nicht in normative Argumente umsetzen. Die Freiheit des Einzelnen kann nicht dem Paternalismus aller untergeordnet werden.“

Im Anschluss sagt Habermas von sich selbst, dass er als „Eurozentriker“ aufgetreten sei. Eines seiner jüngeren Werke hat er die „Einbeziehung des Anderen“ genannt. Darunter versteht der Philosoph, dass die Grenzen der Weltgesellschaft für alle offen sind – „auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen.“

So könnte man Habermas vorhalten, dass er selbstbewusst die Pose dessen einnimmt, der China ein Fremder bleiben will. Doch ist er erst drei Tage unterwegs auf der ersten Chinareise seines Lebens. „Hegel und Max Weber wussten viel mehr über dieses Land als ich“, sagt Habermas. Aber ein bisschen chinesische Philosophie hat er dann doch gelesen: „Die konfuzianische Ethik enthält viele universalistische Faktoren. Ich sehe nicht, warum das nicht in Übereinstimmung mit den Menschenrechten zu bringen ist.“

In Wirklichkeit ist Habermas der Chinarezeption von Hegel und Weber längst weit enteilt. Die beiden deutschen Altphilosophen sprachen dem Reich der Mitte einst jegliche Modernisierungsfähigkeit ab. Habermas aber predigt nur deshalb in Peking, weil er vom Gegenteil überzeugt ist: „Ich habe den Eindruck, China kehrt als Weltmacht zurück.“ So lautete gestern ein Satz, den der Starnberger nicht als Höflichkeit verstanden wissen will.