Ungemütliche Debatten auf der Wohnzimmercouch

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) diskutiert mit jungen Antifas über den Kampf gegen rechts – und zwei Welten prallen aufeinander

Es ist fast wie im heimischen Wohnzimmer. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sitzt bequem auf dem abgewetzten braunen Ledersofa. Auf dem Tisch vor ihm steht ein Glas Wasser, sein grüner Schal hängt lässig von beiden Schultern herab, dezent der Kerzenschein, dezent die Szenerie. Und trotzdem ist es ein ungemütlicher Mittwochabend für den Politiker.

Die Couch steht eben nicht in Thierses Wohnzimmer, sondern im Pankower Jugendclub „Jup“. An den Wänden hängen keine alten Meister, sondern Plakate mit den Parolen „Naziaufmarsch verhindern“ oder „Kein Mensch ist illegal“. Statt Spitzengardinen verkleiden schwarze Stofftücher die Fenster. Kein Wunder also, dass Thierse nicht allein gekommen ist: Zwei Personenschützer registrieren mit unruhigem Blick jede Bewegung des überwiegend jugendlichen Publikums. Die rund 50 Besucher des „Jup“ sind nämlich nicht gekommen, um den Bundestagspräsident zu bejubeln.

Im Gegenteil. Thierse soll sich ihren Fragen stellen. Und: So bequem das abgewetzte Sofa ist, so unbequem sollen die Fragen sein. Wieso schottet sich die Bundesrepublik rigoros gegen Flüchtlinge ab? Weshalb wurde das Asylrecht verschärft? Warum gehen Polizeibeamte oftmals sehr hart gegen die Teilnehmer von antifaschistischen Demonstrationen vor? Gibt es ein wirkliches offizielles Interesse, gegen Rechte vorzugehen?

Der Bundestagspräsident ist bemüht, alle Fragen zu beantworten. Was man gemeinsam gegen rechts tun könne, „das interessiert mich brennend“, sagt er. Andererseits: Einwanderung müsse nun mal geregelt werden, ein Bleiberecht für alle sei weder mach- noch finanzierbar. Damit ist das Publikum gar nicht einverstanden. So auch Marco, der es sich auf derselben Couch bequem gemacht hat – keinen Meter vom zweithöchsten Repräsentanten des Staates entfernt. „Die Grenzen müssen für alle offen sein“, fordert er, „damit die Menschen hier begreifen, was die unterschiedlichen Lebensverhältnisse weltweit bedeuten.“

Von der anfänglichen Wohnzimmeratmosphäre ist nicht viel geblieben. Häufiger gibt es laute Zwischenrufe aus dem Publikum. Der SPD-Politiker verschränkt seine Arme vor der Brust und hebt deutlich die Stimme. Sein Blick ist finster geworden. Hat er denn etwas anderes erwartet? Er hat nicht. Thierse hat nämlich gar nichts erwartet: „Ich bin lediglich einer Einladung gefolgt.“ Ganz im Gegensatz zum 24 Jahre alten Sven. Der möchte wissen, warum in Berlin Antifaschisten ohne konkreten Tatverdacht verhaftet und anschließend von der Polizei schikaniert werden.

Durch einen solchen Fall entstand übrigens die Idee der ungewöhnlichen Gesprächsrunde. Die Mutter eines „Jup“-Besuchers hatte sich schriftlich an Thierse gewandt, weil ihr Sohn Ende November bei einer Antifa-Demonstration brutal festgenommen wurde. Am selben Tag war Thierse als Hauptredner einer Anti-NPD-Kundgebung aufgetreten.

Das nüchterne Ergebnis des Abends: Man kann sich räumlich ganz nahe sein und sich dennoch nicht annähern. Nebeneinander auf dem Sofa sitzend, reden beide Seiten weit aneinander vorbei. Von Thierses Ausführungen zur Einwanderungskommission und den staatlichen Maßnahmen gegen Neonazis wollen die Jugendlichen nichts hören. Die Aufregung seiner jungen Gesprächspartner über und ihr Engagement gegen die Politik der Bundesrepublik lässt den SPD-Mann hingegen fast fassungslos zurück: „Egal was passiert, für Sie ist der deutsche Staat wohl an allem schuld.“ DIRK HEMPEL